Unlock My Truth – Leseprobe

Carly

Man gewöhnte sich daran, arm zu sein.

Gut, technisch gesehen, hatte ich zwei Millionen Dollar in einem Treuhandfonds, auf den ich mit fünfundzwanzig – wenn ich wirklich und wahrhaftig kein Kind mehr war! – Zugriff erhalten würde, und meine Eltern besaßen ein Haus in Beverly Hills, das laut ihrem Testament irgendwann mir gehörte. Aber das war eben nur technisch gesehen. Nicht technisch gesehen, lebte ich nur von Luft und Liebe.

Na ja, ehrlich gesagt zurzeit eher von Luft und unerfüllten Erwartungen, doch selbst die Luft war schon ein Gewinn für mich. Was die Liebe anging – wer brauchte die schon?

Okay, ich. Ich liebte Liebe. Happy Ends. Romantik. Erste Küsse. All die anderen ersten Male. Lange, tiefe Blicke, die mehr als tausend Worte sagten … Vielleicht hatte ich mich deswegen in meinen besten Freund verliebt. Weil es so schön tragisch kacke war – also romantisch, meinte ich jetzt.

Ich gab allen Liebesromanen, K-Dramen und meiner sehr rosarot-regen Fantasie die Schuld, die mir seit Jahren das Gehirn vernebelten. Wenigstens konnte ich meinen Hang zur Gefühlsduselei in meiner Kunst verwerten – auch wenn das nicht alle zu schätzen wussten.

„Der Kerl hat doch keine Ahnung!“, beschwerte ich mich laut und wechselte das Ohr, an dem ich das Handy hielt, während ich aus dem einzigen Bus ausstieg, der in Golden Low, dem schäbigsten Part der Stadt, hielt. Mein Zuhause. Der Ort, der mich bisher glücklicher gemacht hatte als jedes stuckverzierte Zimmer, das ich davor bewohnt hatte.  „Ich hab noch nie ein C bekommen! Und was soll das überhaupt heißen: Meine Arbeit ist zu kitschig? Die Figur ist nicht kitschig. Sie ist romantisch.“

„Was genau ist der Unterschied zwischen kitschig und romantisch?“, wollte Lexie wissen, die bereits seit fünf Minuten meine Hasstirade auf meinen Professor ertrug.

„Kitschig ist zu viel. Romantisch genau richtig.“

„Ähm … zu viel von was?“

„Na, Kitsch eben!“, erwiderte ich verärgert.

„Man merkt, dass du Kunst und kein Englisch studierst. Klar und deutlich ausdrücken kannst du dich zumindest nicht.“

Ich musste unverhofft lachen. „Ich drücke mich mit meiner Kunst aus, Lexie, ich muss keine vernünftigen Sätze bilden können. Und ich hab dir ein Foto meiner Figur gezeigt! Es ist ein eng umschlungenes Liebespaar, keine kitschige Pornographie.“ Ach, der Keramikkurs war ohnehin Schwachsinn. Man benutzte viel zu wenig Farben, und ich durfte weder Fäden noch Joghurtbecher-Deckel integrieren. Wo blieb da also der Spaß?

„Ich mochte die Figur“, meinte Lexie und bewies ein für alle Mal, warum sie meine beste Freundin war.

„Danke! Evan war auch begeistert, weißt du? Und er versteht wirklich was von Kunst.“

„Evan?“, sagte Lexie langsam, während im Hintergrund zwei Männer fluchten. „Ist das nicht dieser Kommilitone von dir, der voll auf dich steht? Und Logan, Aiden, spielt Mario Kart leiser! Ich telefoniere!“  

Ich seufzte schwer. „Evan ist einfach nur nett.“ Auch wenn Ty ebenfalls behauptete, er würde mich nur ins Bett kriegen wollen. Aber die beiden waren auch die Zyniker-Geschwister von Skeptikhausen. Sie hatten keine Ahnung, wie eine platonische Kunst-Freundschaft aussah.

„Warum zur Hölle telefonierst du?“, kam Logans gedämpfte Stimme aus dem Hintergrund.

„Ja, ernsthaft“, stimmte Aiden zu. „Schreib eine DM oder schick Voice-Nachrichten wie jeder normale Mensch.“

„Ich tret dich gleich dahin, wo es jedem normalen Mensch wehtut“, meinte Lexie sachlich.

Ich prustete und bog in unsere Straße ein, die mit Schlaglöchern in der Größe von Tys Bindungsproblemen, gedämpfter Hiphop-Musik und einer Menge flackernder Laternen aufwartete. Wenn meine Eltern sehen könnten, wo ich nachts allein herumlief, würden sie erst in Ohnmacht fallen und mich dann mit Handschellen an mein altes Kinderbett ketten. Aber mir war noch nie etwas passiert. Die Nachbarn kannten mich, ich war eine von ihnen. Untechnisch gesehen jetzt. Deswegen ließen sie mich in Ruhe.

„Weißt du, was das Schlimmste ist?“, fuhr ich unbeirrt fort. „Reeves hat dem grausigen Greg ein A gegeben. Er hat groß damit in seiner Story angegeben! Ein verdammtes A … für seine traurige Entschuldigung von Rattenfänger.“ Ich bevorzugte es, Liebe und gute Laune zu verbreiten, aber Greg machte sich seit zwei Jahren über meine Kunst lustig – dabei war er ein untalentierter, unhöflicher Farbblob, den man schleunigst von seiner Palette wischen sollte.

Lexie lachte. „Du nimmst heute aber untypisch negative Vokabeln in den Mund. Schlimm. Traurig.“

„Ja, und du weißt, wie furchtbar ich es finde, so was sagen zu müssen“, jammerte ich.

„Ach, mach dir nichts draus. Reeves ist bestimmt nur sexuell frustriert, deswegen weiß er das Liebespaar nicht zu schätzen.“

Oh, bitte. Ich war auch sexuell frustriert! Trotzdem konnte ich Kunst noch von Müll unterscheiden. Das war nun wirklich kein Argument. Insgesamt hätte ich schon allein dafür die Bestnote bekommen sollen, dass ich es geschafft hatte, einen nackten Mann zu formen, obwohl ich in meinem Leben noch keinen echten gesehen hatte! Denn der einzige Kerl, mit dem ich je geschlafen hatte, hatte darauf bestanden, Shirt und Socken anzubehalten. Damit er keine Erkältung bekam.

Es war gut, dass ich Optimistin war, denn diese Erinnerung allein hätte schwächere Frauen als mich womöglich deprimiert. Gott sei Dank war ich ein Badass[SL1] ! Nicht Lexie-„Ich kann dich mit nur einen Schlag in den Nacken ausknocken“-Badass[TR2] , aber „Ich hätte eigentlich tot sein sollen, aber der Tod kann mich mal!“-Badass[TR3] . Da war schwer zu entscheiden, was cooler war!

Okay, Lexie war cooler. Aber ich war trotzdem stolz auf mich.

„Ach, ich hab den Kurs sowieso nur belegt, weil ich Credits fürs Töpfern brauche, um nächstes Jahr den Bachelor beenden zu können“, sagte ich seufzend und stieß die Haustür unseres graffitiverschmierten Backsteingebäudes auf, in dem mir sofort der Geruch nach feuchter Farbe und Marihuana entgegenschlug. Es besaß kein Schloss und lebte ganz getreu dem Motto: Die inneren Werte zählen, also los, schau dir alles an! Ich würde es nicht als sichere Methode bezeichnen, aber es lohnte sich auch wirklich nicht, in irgendeine der Wohnungen hier einzubrechen. „Aber wenn ich jetzt wegen der Note nicht für die Ausstellung im November in Betracht gezogen werde …“ Unzufrieden biss ich mir auf die Innenseite der Wange, während ich die erste Treppenstufe hinaufstieg.

Nur die besten drei des Jahrgangs durften ihre Bilder in einem Monat im Atelier Prestige in Los Angeles ausstellen. Und Gott, ich wollte diesen Platz so sehr! Ich wollte meinen Eltern beweisen, dass Malen keine brotlose Kunst sein musste. Mir selbst beweisen, dass ich auch ohne Hilfe etwas erreichen konnte. Der Welt beweisen, dass wirklich alles gut werden konnte, wenn man nur nicht aufgab, und es sich lohnte, zu kämpfen.

„Sie müssten schon sehr dumm sein, dich nicht auszuwählen, Carly“, sagte Lexie weich. „Du bist toll.“

Ich lächelte. „Ich hoffe auch. Danke fürs Zuhören.“

„Klar, kein Ding. Hey, hast du Lust, noch vorbeizuschauen? Logan und Aiden sind sehr schlecht im Mario Kart, und wir könnten ihnen eine Lektion erteilen.“

„Das hab ich gehört!“, rief Logan aus dem Hintergrund.

„Weil ich nicht leise gesprochen habe!“, erwiderte Lexie laut, bevor sie für mich hinzufügte: „Also, was sagst du? Wir könnten weiter über Reeves herziehen.“

Ich grinste. Ja. Diese Art von Frau war ich geworden. Die, die nachts um eins noch überlegte, auszugehen. Wenn mir das jemand vor zwei Jahren erzählt hätte … ich hätte ihn vor unterdrücktem Ärger umgeschubst.

Dennoch schüttelte ich den Kopf. „Evan hat auch schon gefragt, ob ich noch was mit ihm machen will. Aber ich war jetzt doch länger im Atelier malen und bin schrecklich müde.“ Und es war schön, die Wohnung mal für mich allein zu haben. Ich mochte Logan … aber Lexie und er waren so furchtbar verliebt, dass es teilweise anstrengend war.

„Soso“, flötete Lexie. „Hat Evan das?“

„Es war ein freundschaftliches Angebot!“, meinte ich verärgert. Ich mochte Evan, er war nett und ebenfalls Künstler. Er dachte nicht, dass Taupe ein fancy[TR4]  Straßenvogel war. Aber selbst wenn er mehr als nur Freundschaft von mir wollte – in meinem Herzen war ich seit zwei Jahren vergeben. Klar, der Kerl wusste nichts von seinem Glück und behandelte mich wie einen Golden Retriever, aber … ich hatte Hoffnung, dass er eines Tages aufwachte und dachte: Shit, Carly ist heiß! Warum habe ich sie noch nicht in mein Bett gezerrt … und sollten wir vielleicht heiraten?

War das kitschig? Nein. Es war romantisch.

Ich blieb auf der Treppe stehen, rieb mir mit Hand über mein Gesicht und stöhnte laut.

Oje, es stand schlecht um mich. Leider war ich nicht nur romantisch, sondern auch reflektiert. Die schrecklichste aller Kombinationen.

„Alles okay?“

Ich blinzelte. Richtig, ich hatte laut gestöhnt. „Jaja. Alles super. Danke für die Einladung, grüß die Jungs und viel Spaß euch, ja. Ich nehme an, du schläfst heute bei Logan?“, fragte ich und massierte mir die Brust, die sich bei dem Gedanken an meine dumme Hoffnung, die ich endlich begraben sollte, eng zusammengezogen hatte.

„Jap, morgen vermutlich auch und … jaja, ist ja gut!“, sagte Lexie genervt. „Aiden will wissen, was er dir zum Geburtstag schenken soll. Er ist am Samstag bei deiner Feier im Blue Mate zwar nicht dabei, weil er ein Auswärtsspiel hat, aber will dir trotzdem was besorgen.“

„Das ist sehr lieb von ihm“, erwiderte ich breit grinsend und stieg die letzten Stufen zu unserer Wohnungstür hoch. „Ich liebe Geschenke.“

„Ich weiß. Also?“

„Kekse. Bei Aiden kann man mit Keksen nie falsch liegen!“ Ich kannte ihn zwar erst seit ein paar Tagen, aber wusste bereits jetzt, dass der Kerl nicht nur Footbälle wie ein Gott warf, sondern auch übermenschliche Fähigkeiten in der Küche hatte.

Scheiße, warum hatte ich mich nicht in Aiden verlieben können? Das wäre so viel einfacher gewesen!

Lexie lachte. „Das gebe ich so weiter. Bis dann, Carly. Schlaf schön.“

„Danke, ihr auch“, erwiderte ich und legte auf.

Meine Wut auf Professor Reeves war fast verpufft. Ich war nicht talentiert darin, lange wütend zu sein. Meine Noten waren gut! Zurzeit mochte ich nur auf Platz vier der besten Studierenden meines Jahrgangs stehen, aber ich hatte noch mein Selbstporträt, das Midterm[TR5] -Projekt meines Steckenpferd-Kurses Malerei, und wenn ich dort ein A bekam, würde ich am grausigen Greg vorbei und in einen Ausstellungsslot ziehen.

Positiv. Ich musste positiv bleiben. Eine gute mentale Einstellung konnte bereits riesige Auswirkungen auf meinen Körper haben, und was ich von mir selbst dachte, zählte.

In meinem Kopf wiederholte ich das Mantra, das mir meine Therapeutin mit vierzehn, bei meinem dritten Krankenhausaufenthalt in einem Jahr, beigebracht hatte, bevor ich lächelte, weil der Körper dann nach neunzig Sekunden automatisch Endorphine ausschüttete, die das Stressgefühl in meiner Brust hoffentlich vertrieben.

Ich schloss die Wohnungstür auf, öffnete sie und …

„Hey.“

Ich schrie auf und hob meine Handtasche über den Kopf, bereit, zuzuschlagen.

„Carly, ich bin’s.“

Ein erleichterter Schwall Luft entwich meiner Lunge, und ich starrte wütend zu der großen Gestalt, die in meiner dunklen Küche saß, bevor ich mit der Faust auf den Lichtschalter zu meiner Rechten schlug. „Was zur Hölle, Ty!?“ Ich presste eine Hand auf mein schnell klopfendes Herz. Zugegeben, in Tys Gegenwart pochte es immer etwas hastiger, als es sollte, aber nicht so wie jetzt, wie ein Kolibri auf Speed, der in eine Kaffeekanne gefallen war.

Ich hatte mich daran gewöhnt. An das sachte Ziehen von Sehnsucht in meiner Brust, wenn ich ihn sah. An die Wärme, die sich in mir ausbreitete. An die Schwere in meinem Bauch, wenn er lächelte oder sich den Nacken kratzte und seinen blöden Bizeps betonte. An das Wissen, dass ich ihn nicht allzu lang ansehen durfte, damit ich nicht anfing zu starren und meine Fantasie mit mir durchging. Ich stellte mir nämlich sonst allerhand dreckige Dinge vor, die Professor Reeves nur wieder als pornös bezeichnet und mit einem C versehen hätte.

„Großer Gott“, sagte ich noch immer atemlos und warf Ty einen ungläubigen Blick zu. Er fläzte in einem der Campingstühle an unserem Küchentisch, als würde ihm die verdammte Welt gehören.

„Ich hab dir doch gesagt: Du darfst mich Ty nennen“, meinte er gelassen, und ein Löffel Joghurt verschwand in seinem Mund.

Ich schnaubte laut und zog meine Schuhe aus, ich hatte heute Mittag erst gestaubsaugt. „Warum hockst du wie der letzte Creep [SL6] im Dunkeln an unserem Tisch? Willst du mich umbringen?“

Mein ungebetener Gast hob einen Mundwinkel. „Nee. Wenn ich dich umbringen wollte, würde ich versuchen, einen Topf mit Glasreiniger sauber zu machen, und warten, bis dein Herzinfarkt vorbei ist.“

„Über so was macht man keine Witze, Ty!“, sagte ich böse, denn er wusste ganz genau, dass es nur zwei Dinge in meinem Leben gab, die ich sehr ernst nahm: Kunst und Putzen.

Das Erste, weil es mein Leben bereicherte. Das zweite, weil es mein Leben möglicherweise rettete.

Mittlerweile war das vermutlich Unsinn, aber manche Angewohnheiten waren schwer abzulegen.

„Sorry, sorry.“ Er hob entschuldigend die Hände beziehungsweise Joghurt und Löffel, auch wenn sich seine Lippen amüsiert kräuselten.

Ich seufzte schwer und stellte die Handtasche vor meine Zimmertür. „Was machst du hier? Und warum sitzt du im Dunkeln?“

„Lexie meinte letzte Mal, ich solle nicht euren kostbaren Strom verschwenden.“

„Das Einzige, was du gerade verschwendest, sind meine Nerven“, murmelte ich und lief zum Kühlschrank, um mir eine Flasche Wasser zu holen. Es war … warm hier drin. Tys Körper hatte ungefähr eine Temperatur von hunderttausend Grad. Und das war abgerundet!

Es war nicht so, dass ich mich nicht wohl in seiner Gegenwart fühlte. Das Problem war eher, dass ich mich zu wohl fühlte. Es war so leicht, Zeit mit ihm zu verbringen. Immer entspannt und witzig und … warm. Das Schwierige waren die Augenblicke, Nächte und Stunden danach, in denen ich noch immer seinen Geruch in der Nase hatte, und die Gänsehaut, die sein heiseres Lachen hinterließ, nicht loswurde. In denen ich das Kopfkino nicht abstellen konnte, das doch niemals wahr werden würden, weil Ty nicht fühlte, was ich fühlte. Und das tat meinem Herzen nicht gut.

Wenn man einen Tonkrug erst mit heißem, dann mit kaltem, dann mit heißem, dann mit kaltem Wasser überschüttete, bekam er Risse, bis er sprang. Und wenn mein Herz sich an meinen Töpferkünsten orientierte? Dann hatte ich echt schlechte Karten.

„Wo warst du überhaupt?“, wollte Ty wissen, während ich den Kopf etwas zu tief in den Kühlschrank steckte, um mich abzukühlen.

„Das ist nicht die richtige Frage!“, sagte ich trocken und zog eine Wasserflasche aus der Tür, bevor ich mich umdrehte. „Gott, Ty, erstens: Du bist nicht mein persönlicher Aufpasser, dir kann egal sein, wo ich war! Und zweitens: Du kannst hier nicht einfach reinplatzen, wann immer zu willst. Was, wenn ich … nackt gekocht hätte?“

„Ah, aber du kochst nicht, weil Lexie dir verboten hat, mehr als die Mikrowelle und den Toaster zu benutzen. Aus Angst, dass du die Wohnung abfackelst“, sagte er.

Ich presste die Lippen zusammen. Er hatte natürlich recht. Bevor ich vor knapp einem halben Jahr mit Lexie zusammengezogen war, hatte ich mich keinen einzigen Tag in meinem Leben um mein Essen kümmern müssen. Und das wussten Herd, Ofen und Co., denn ich hatte es sie alle schon aus Versehen spüren lassen. Trotzdem!

„Es geht ums Prinzip. Ich hätte auch … lauter andere Dinge nackt tun können.“

Belustigt schaute Ty mich an. „Machst du eine Menge Dinge nackt, Carly?“

Nein. Ehrlich gesagt tat ich gar nichts nackt, außer mich umzuziehen. Selbst beim Duschen trug ich meistens etwas auf dem Kopf, damit meine Braids nicht nass wurden, denn die musste ich nur einmal die Woche waschen, und sie brauchten Ewigkeiten, um zu trocknen. Und wieso zur Hölle war ich freiwillig in nackte Gefilde spaziert? Das half meiner Körpertemperatur nicht dabei, sich zu regulieren.  

„Halt die Klappe, Ty“, sagte ich, schloss den Kühlschrank und nahm hastig ein paar Schlucke Wasser, bevor ich hinzufügte: „Und benutz wenigstens einen blöden Untersetzer.“

„Für meinen Joghurtbecher?“, fragte er irritiert.

Ich hob die Augenbrauen und lehnte mich gegen die Kühlschranktür. „Deinen Joghurtbecher?“

„Na ja, da die Hälfte seines Inhalts bereits in meinen Magen verschwunden ist, dachte ich, sein Besitz wäre vielleicht auf mich übergegangen.“

„Nein. So funktioniert unser Rechtssystem nicht. Du weißt genau, dass ich den Kühlschrank nach Haltbarkeitsdatum ordne, Ty. Das erste Regal ist Freiwild, alles darunter Diebstahl.“ Ich lief um den Tisch herum und setzte mich ihm gegenüber in den freien Campingstuhl. „Und hat Lexie dich nicht dazu gezwungen, deinen Schlüssel zurückzugeben?“

„Sie wollte, aber was, wenn ihr mal Hilfe braucht und niemand einen Schlüssel hat?“

„Wie zum Beispiel, wenn ein Typ bei uns in die Wohnung einbricht, unseren Kühlschrank leer isst und arglose Mädchen erschreckt?“

„Zum Beispiel“, sagte Ty abwesend. „Und sorry. Falls es dir hilft: Ich hab Kirsch genommen, dir dein geliebtes Pfirsich gelassen und den Deckel nicht weggeworfen.“ Er deutete auf die Silberfolie vor sich auf dem Tisch, bevor er einen Untersetzer vom Regal über sich nahm – ohne aufzustehen, denn sein Arm war ungefähr so lang wie … ich. Dann schwieg er.

„Danke“, sagte ich leise und musterte ihn verwirrt. Normalerweise diskutierte er mehr. Lexie meinte, das läge daran, dass er vor Ewigkeiten mal irgendeine Trophäe in einem Debattierclub gewonnen hatte und es ihm zu Kopf gestiegen war. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass er es nur tat, um mich aufzuregen. Es machte ihm nämlich Spaß – doch das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Ach, herrje, ich war in einen Idioten verknallt. Einen Idioten, der angespannter wirkte als sonst, was sehr leicht zu erkennen war, denn Ty war nie angespannt, zumindest nicht sichtbar. Er konnte noch im Schlaf dumme Sprüche klopfen oder charmante Kommentare machen.

Sein Mund blieb allerdings geschlossen, während er angestrengt den Löffel betrachtete, den er zwischen den Fingern drehte.

„Ist alles … okay?“, fragte ich zögerlich.

„Jop.“ Er schenkte mir ein knappes Lächeln. „Bei dir?“

Er log, irgendetwas stimmte nicht. Ich erkannte es immer. Doch auch wenn Ty einer meiner besten Freunde war … er war König darin, Dinge oberflächlich zu halten und zwar alles über andere in Erfahrung zu bringen, aber nichts von sich selbst preiszugeben. Ich kannte ihn besser als die meisten, aber manchmal war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich wusste, wer er war. Ob es irgendwer tat, außer vielleicht Lexie.

„Ach, mein Prof hat mir ein blödes C gegeben.“

„In Keramik?“

Hatte ich mich schon mal über das Fach beschwert? Ich erinnerte mich nicht mehr. „Ja!“

„Du wirst den trotzdem Ausstellungsplatz bekommen, Carly“, sagte er weich. „Ich weiß es. Niemand ist so verdammt beängstigend talentiert wie du.“

Meine Wangen wurden heiß, und ich wandte das Gesicht ab. Ja, es war schrecklich leicht gewesen, sich in Ty zu verlieben.

„Übrigens: Du hast Farbe unter den Nägeln“, informierte er mich und löffelte den Rest des Joghurts aus.

Ich blickte auf meine Hände, von denen sich die weißen Acryl-Sprenkel abhoben, die es nicht auf meine Leinwand geschafft hatten. „Ich war im Atelier in der Uni malen, deswegen komm ich auch erst jetzt. Logan war vorhin hier. Lexie und er haben die ganze Zeit gegiggelt und … ich schwör: Mir war nicht einmal klar, dass deine Schwester giggeln kann.“

Ty lachte leise. Dieses raue, beinahe unterdrückte Lachen, als wäre es eines seiner vielen Geheimnisse, die sich ungefragt an die Oberfläche drängten. „Sie kann. Sie entscheidet sich nur meistens dagegen.“

„Na ja, du verstehst, warum ich gehen musste. Sie waren eklig verliebt und viel zu süß.“

„Ich dachte, du magst süß?“ Ty lehnte sich auf dem Stuhl zurück, sodass er nur noch auf zwei Beinen stand, und verschränkte die Hände im Nacken.

Mein Stichwort, ihm intensiv ins Gesicht und nicht auf seine schrecklich muskulösen Oberarme zu starren. Von seiner Anspannung war nichts mehr zu erkennen. Er wirkte wieder, als hätte er einen jahrelangen Vorrat an Entspannung und Sorgenfreiheit in der Lotterie gewonnen.

„Ich liebe süß“, sagte ich echauffiert. Obwohl ich gegen sexy, so wie besagte Muskeln, auch nichts einzuwenden hatte. Ich schluckte. „Aber das heißt nicht, dass es nicht sogar mir zu viel werden kann. Ich glaub, es liegt daran, dass ich selbst viel zu wenig verliebt-süß im Leben habe, und es mir dringend zulegen sollte.“ Ups. Das Letzte hatte ich eigentlich nur denken wollen.

„Aha“, machte Ty und wandte den Blick ab. „Also kommt Lexie heute nicht mehr?“

„Oh, wartest du auf sie?“

Natürlich war er wegen seiner Schwester hier, nicht meinetwegen! Gott.

„Ja. Ich wollte was … mit ihr besprechen.“ Er fuhr sich durch die Haare und brachte die dunkelblonden Strähnen fachmännisch durcheinander.

„Sorry, ich hab gerade mit ihr telefoniert, sie schläft bei Logan. Was ich gut verstehen kann, denn sein Mitbewohner Aiden backt die besten Kekse, und der Wasserdruck seiner Dusche erinnert bestimmt nicht an Tautropfen, die von Blättern rollen. Ich würde auch bei ihm schlafen. Ruf sie doch einfach an.“

„Nee, will persönlich mit ihr reden.“

„Warum?“

Seine vorderen Stuhlbeine kamen mit einem dumpfen Ton wieder auf dem Boden auf. „Weil es um wichtige Dinge geht. Dein Geburtstagsgeschenk, zum Beispiel.“

Ich biss mir auf die Zunge, denn das war nicht wahr. Lexie schenkte mir einen Wellnesstag in unserer Wohnung, das hatte sie mir schon vor Monaten angekündigt, weil sie Überraschungen hasste und fälschlicherweise dachte, dass es jeder anderen Person auch so ging. Ty wollte nur vom Thema ablenken, und ich ließ ihn. Ich war es gewöhnt, dass er die Hälfte meiner Fragen nicht beantwortete. Ich wusste grob, wie seine und Lexies Kindheit und Jugend ausgesehen hatte. Ihr Vater war ein Betrüger und hatte bis vor Kurzem im Knast gesessen, sodass Lexie gezwungenermaßen Ausweise gefälscht und Prüfungsergebnisse gestohlen hatte, um sich das College finanzieren zu können. Ty hingegen hatte nie seinen Highschool-Abschluss machen können, weil er mit sechzehn vor den Behörden hatte fliehen müssen, die ihn und Lexie höchstwahrscheinlich in getrennte Heime oder die Jugendstrafanstalt gesteckt hätten. Er hatte schon in einer Autowerkstatt, auf dem Bau, im Supermarkt, in diversen Bars und als Rausschmeißer für eine Menge Nachtclubs gearbeitet, liebte seine Gitarre, Kirschjoghurt, Lexie und Schallplatten, besaß aber nie genug Geld, um sich Letzteres zu kaufen. Doch über seine Mutter zum Beispiel redete er nie. Genauso wenig wie über den Tag, an dem sein Vater festgenommen worden war, oder darüber, ob es schwer gewesen war, immer wieder umzuziehen, alle Menschen um ihn herum anzulügen und niemanden wirklich kennenzulernen, damit es nicht so wehtat, wenn sie wieder hatten gehen müssen.

Er sprach nicht über die wichtigen Dinge und hatte dieses blöde Motto: Je weniger Menschen über einen wissen, desto besser.

Ich konnte ihm keinen Vorwurf deswegen machen, trotzdem wünschte ich mir, er würde bei mir … eine Ausnahme machen.

Weil du was Besonderes sein willst, du romantisch versautes Stück!, erinnerte mein Unterbewusstsein mich.

„Du musst mir nichts schenken“, sagte ich hastig, als mir klar wurde, dass ich bereits viel zu lang still war, denn ich wollte nicht, dass er Geld für mich ausgab. Er hatte nie genug, und legte es auch darauf an.Sparen war für Leute, die sich etwas leisten wollten, und Ty leistete sich … nie etwas.

„Natürlich schenke ich dir was“, sagte er amüsiert, und mein Herz setzte einen Schlag aus. „Du liebst Geschenke, und du bist Carly. So gut wie meine Schwester.“

Mein Herz fiel auf den dreckigen Boden zu meinen Füßen.

Nein, das stimmte nicht. Der Boden war sauber – und mein Herz donnerte ziemlich sicher hindurch.

„Aber dich zu beschenken, ist unmöglich“, fuhr er seufzend fort. „Du erzählst mir immer nur, dass du alles hast, wovon du je geträumt hast.“

Ich hob eine Schulter. „Das stimmt auch.“ Ich hatte Freunde. Ein Leben, das mir gehörte. Keinen Druck, meine Gesundheit und das Gefühl, dazuzugehören. Ich musste nur noch eine berühmte Künstlerin werden … und Ty vergessen, damit ich jemand anderem eine Chance gab. Dann wäre alles perfekt.

Ty seufzte dramatisch, bevor er aufstand. „Du bist keine leichte Kundin“, bemerkte er, tätschelte meinen Kopf und zog sich die Jacke über, die am Haken neben unserer Tür hing.

Das tat er viel zu oft. Meinen Kopf tätscheln, als wäre ich ein treuer Hund. Konnte er mich nicht einfach in den Arm nehmen? Wie normale Menschen?

„Du … kannst noch bleiben, Ty“, rutschte es mir heraus. Weil mein Blick an ihm festhalten wollte, wie es mein Herz seit zwei Jahren tat. „Du wirkst ein wenig durch den Wind. Wir können dein geliebtes Musikquiz spielen, und du kannst mir erklären, dass K-Pop keine Musik, sondern eine Zumutung ist.“

„O nein, es ist spät. Du solltest ins Bett gehen, und ich …“ Er schaute auf sein Handy, dessen Display aufleuchtete. „Ich bin vielleicht noch verabredet.“

Er war vielleicht noch verabredet. Um ein Uhr nachts.

Meine Kehle zog sich enger. Ich war längst nicht mehr eifersüchtig, nur noch … resigniert. Shit.

„Na dann“, sagte ich betont fröhlich, um das bittere Gefühl zu übertünchen, dass meinen Magen kaperte. „Bis Samstag?“

„Jup.“ Er nickte und hatte die Hand bereits am Türknauf, als er sich noch einmal umdrehte. „Carly, Lexie ist … zurzeit glücklich, oder?“

„Sehr.“

„Logan … behandelt sie gut?“

„Sehr.“

Er lächelte sanft. „Gut. Und schließ die Tür ab, es ist viel zu leicht, hier reinzukommen und euch Joghurt aus dem Kühlschrank zu stehlen.“ Dann trat er in den Flur.

Ich starrte auf die geschlossene Tür – und ein altbekanntes, dumpfes Gefühl schlich sich in meine Brust und machte es sich dort gemütlich. Es war keine Verzweiflung, es war keine Sehnsucht … Es war längst taub gewordenen Verzweiflung. Abgestumpfte Sehnsucht.  

Es war leicht gewesen, sich in Ty zu verlieben, unmöglich, es nicht zu tun. Doch gleichzeitig war es eine Tortur. Denn Ty mochte Frauen, und er mochte viele. Weshalb ich es oft vermied, ins Blue Mate zu gehen, wo er sechs Tage die Woche arbeitete und jedes Mal sein persönlicher Fanclub auf ihn wartete. Ich verstand es, er war heiß! Es störte mich nicht, dass so viele Frauen ihn mochten. Es störte mich, dass er mit ihnen schlief, ihnen das Gefühl gab, besonders zu sein, aber kein einziges intimes Detail aus seinem Leben preisgab.

Und ja, es störte mich auch, dass er nicht einmal auf die Idee gekommen war, mich zu einer seiner Freundinnen zu machen.  

Ty war wie die Farbe unter meinen Fingernägeln. Er grub sich, ohne zu fragen, unter meine Haut. War immer da, egal, wie oft ich versuchte, von ihm loszukommen, aber nie ganz. Er gab mir nur Sprenkel, keine ganze Tube.

Okay, das hörte sich pervers an. Egal. Denn das entscheidende war, ich fühlte mich besser, nachdem ich gemalt hatte. Aber fühlte ich mich auch besser, nachdem ich Ty gesehen hatte?

„Nein“, flüsterte ich und vergrub das Gesicht in meinen Händen. Ty … tat mir nicht gut. Er konnte nichts dafür, er wusste es nicht einmal, aber wenn ich ehrlich war, hatte ich genug. Von mir selbst, von meiner Misere und meiner rosaroten Brille. Von meinen blöden romantischen Vorstellungen, die niemals Realität werden würden, während Ty sich durch die Stadt vögelte!

Ich wurde verdammte einundzwanzig Jahre alt. Ich war kein Teenager mehr, und es reichte.

Grimmig presste ich die Lippen zusammen. Ty würde mich nie ernstnehmen, mich immer als kleine Schwester sehen und nie als Freundin in Betracht ziehen.

Was erwartete ich? Er hatte mir beim Kotzen schon mal die Haare gehalten. Das schrie nicht unbedingt: Sexy. Wir waren seit Ewigkeiten … eine Art Familie. Und daran würde sich nichts ändern. Das war okay, ich musste es nur endlich akzeptieren – und zwar jetzt.

Mein Geburtstag war der perfekte Cut[TR7] , oder nicht?

Samstag würde ich einen Schlussstrich ziehen. Ich würde ihn weniger ansehen, weniger Zeit mit ihm allein verbringen und weniger von seiner distanzierten Nähe genießen, die mich innerlich zerriss.

Und wenn ich ihn dann abgehakt hatte, jemand anderen datete und ihn nur noch als den süßen Idioten sah, der er war, konnten wir weitermachen wie vorher. Es war ohnehin besser, wenn wir nicht zusammenkamen, denn ich würde meinem Freund schlecht verheimlichen können, wie reich meine Eltern eigentlich waren.

Ein Geheimnis war wie die Leber. Es wuchs mit seinen Aufgaben, bis es so groß war, dass es einfach platzte. Und ich hatte seit zwei Jahren Angst, dass es bei mir bald so weit war. Auch daran sollte ich arbeiten.

Wenn ich meine Geheimnisse in chronologischer Reihenfolge aufzählen müsste – alles andere wäre unsinnig –, sähe es so aus:

  • Ich bin reich, Lexie und Ty, sorry!
  • Ich studiere nicht Medizin, Mom und Dad. Upsi.
  • Ich bin seit zwei Jahren, drei Monaten und vier Tagen in Tyler Shaw verliebt.
  • Meine Eltern haben mich nicht rausgeschmissen, Lexie, ich wollte nur einfach gern mit dir zusammenziehen und anfangen, richtig zu leben.

Wie schlimm war es? Ja!

Doch ich würde zumindest mein drittes Geheimnis jetzt endlich aufgeben und meiner Leber etwas Ruhe gönnen.

Also nicht wortwörtlich, schließlich wurde ich einundzwanzig. Meine echte Leber hatte mit einer Menge Arbeit zu rechnen!

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