Kapitel 1
Lovisa
Die meisten Menschen sind der Meinung, dass ein Kilometer stets tausend Meter lang ist. Doch meiner Erfahrung nach behaupten das nur Mathelehrer oder Leute, die nie in ihre 1376-Seelen-Heimatstadt zurückkehren mussten, die einen inbrünstig hasst. Mein Ziel ist zufällig Letzteres und während ich nervös mit den Fingern aufs Lenkrad trommele und mich die enge Landstraße englangquäle, stelle ich fest, dass der Kilometer, der noch vor mir liegt, so schnell zusammenschrumpft, dass mein Navi lügen muss. Das sind höchstens hundert Meter, nicht etwa tausend. Ich wurde bereits zweimal überholt – was in diesem Teil Schwedens, wo etwa drei Autos am Tag entlangfahren, wirklich eine Seltenheit ist – und habe trotzdem noch das Gefühl, zu schnell voranzukommen.
Kann es nicht wenigstens anfangen zu schneien? Oder zu stürmen? Der Wetterbericht hat für die nächsten Wochen starken Schneefall vorhergesagt, doch gerade scheint die Sonne so fröhlich durch meine Windschutzscheibe, dass man meinen könnte, sie habe soeben die langersehnte Rolle bei den Teletubbies ergattert. Selbst der dichte Nadelwald, der die Straße säumt, kann ihre Strahlen nicht davon abhalten, mich zu blenden.
Ich habe mich seit Langem nicht mehr so fehl am Platz gefühlt. Eigentlich wäre ich lieber an jedem anderen Ort. Afghanistan und Guantanamo sollen doch zu dieser Jahreszeit ganz hübsch sein. Doch dieser Tag hat kommen müssen … und fünf Jahre sind ein zu langer Zeitraum, um die schlechteste Tochter und Schwester auf der Welt zu sein.
»Gott«, flüstere ich und umklammere das Lenkrad fester.
Sie werden mich alle anstarren. Hinter meinem Rücken über mich reden. Mir böse Blicke zuwerfen, mir Fragen stellen, auf die ich keine Antworten habe. Und ich werde Sven wiedersehen müssen.
»Reiß dich zusammen, Lovisa. Du fährst nach Lillaström, nicht Gotham City. Es wird halb so wild«, belüge ich mich selbst und werfe einen kurzen Blick auf mein Handy, das auf dem Beifahrersitz liegt und aufblinkt. Eine Nachricht von Elina.
Wo steckst du? Dein Flugzeug ist doch schon vor zwei Stunden gelandet. Ich wusste, dass ich dich hätte abholen sollen! Wehe, du machst einen Rückzieher.
Ich ziehe eine Grimasse. Zugegebenermaßen ist mir der Gedanke mehrfach durch den Kopf geschossen. Eine Krankheit oder einen wichtigen Geschäftstermin vorzuschieben. Aber meine Schwester weiß, dass ich selbstständig bin und Webseiten von überall aus designen kann … und eine Krankheit hätte sie wahrscheinlich nicht gelten lassen. Außerdem schulde ich es ihr, meinem Bruder und Pappa, endlich mal Rückgrat zu beweisen, sie zu besuchen und ihnen zu helfen.
Pappa hat sich ein Bein gebrochen und Elina sagt schon seit Jahren, dass sie Hilfe im Bed and Breakfast gebrauchen kann – nur eben keine, die sie bezahlen muss. Also: mein Auftritt. Lovisa, die Retterin. Nicht Lovisa, die Herzensbrecherin und Zerstörerin. Das wäre doch mal eine nette Abwechslung.
Also reiße ich mich zusammen und nicke fest. Ich kann nicht ändern, was passiert ist, aber ich kann zumindest versuchen, es wiedergutzumachen.
Ich beschleunige. Ich muss einfach das Pflaster abziehen. Und am wenigsten schmerzt es, wenn man es besonders schnell macht, also drücke ich das Gaspedal und die Schultern durch und …
Eine Sirene erklingt.
Ungläubig sehe ich in den Rückspiegel. Ein Polizeiauto ist hinter mir auf die Straße geschert und das blaue Blinken bedeutet mir, an den Straßenrand zu fahren.
Ernsthaft?! Es ist, als will das Universum mir ein Zeichen geben: Dreh bitte sofort um, Lovisa, wenn du keinen grausamen Tod sterben willst.
Eine Sekunde lang überlege ich, das Gaspedal einfach weiter durchzudrücken. Eine kurze Verfolgungsjagd und eine Nacht im Gefängnis sind wahrscheinlich weniger grausam als mein Ziel zu erreichen. Aber ich mag meine Toiletten lieber mit Wänden und habe ehrlicherweise ein Faible für Matratzen ohne Blut oder Bierflecken … Also seufze ich und fahre rechts ran. Das Polizeiauto kommt keine fünf Meter hinter mir zum Stehen.
Ich beobachte über den Spiegel, wie die Fahrertür aufschwingt und zwei lange, in Jeans verpackte Beine aussteigen, gefolgt von einem muskulösen Oberkörper, den die dunkelblaue Polizeijacke eigentlich verstecken können sollte. Sie bekommt es jedoch nicht hin. Weil sie offensteht und die Schultern des Mannes zu breit sind und … Oh, nein.
Mein Blick ist auf das Gesicht des Polizisten gefallen. Dunkle, lockige Haare, die ihm in die Stirn hängen. Ebenso dunkle Augen, die noch genauso intensiv dreinblicken wie vor fünf Jahren. Mitten in einem Gesicht, das aus lauter Ecken und Kanten besteht und anscheinend jetzt Bart trägt. Gerade kurz genug, um alte Frauen nicht die Straßenseite wechseln zu lassen. Jan Lindqvist.
Es mag fünf Jahre her sein, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe – aber niemand war jemals dazu in der Lage, sein Gesicht zu vergessen. Da bin ich mir sicher. Denn solch lächerlich attraktive Visagen vergisst man nicht.
Er sieht älter aus, reifer, noch kantiger und größer. Lang kein Teenager mehr. Die letzten Jahre sind ihm gut bekommen – und ich ärgere mich maßlos darüber. Mir haben sie nämlich nur ein paar Falten um die Augen und eine ausladendere Hüfte beschert.
Stöhnend sinke ich in meinem Sitz zusammen. Der hat mir gerade noch gefehlt. Es gibt zwei Personen in Lillaström, die mich mehr hassen als alle anderen. Sven, dem ich das Herz gebrochen habe –, und Jan, dessen bestem Freund ich das Herz gebrochen habe.
Im Gegensatz zu Sven ist Jan aber kein netter Kerl, der dafür bekannt ist, alten Damen über die Straße zu helfen, Komplimente zu verteilen und allen Menschen das Gefühl zu geben, toll zu sein. Zumindest nicht der Jan, den ich in Erinnerung habe. Er war das komplette Gegenteil von Sven. Dem Einserschüler mit der goldenen Zukunft, den freundlichen Eltern und der perfekten Freundin – mir.
Der Jan aus meiner Schulzeit war immer wütend auf die Welt. Sein Vater abgehauen, als Jans kleine Schwester geboren wurde. Seine Mutter alleinerziehend und überfordert, sodass er ihr schon in jungem Alter jeden Tag helfen und Geld verdienen musste. Er war frühreif. Der Erste, der ausgesehen hat wie ein Mann und kein Junge. Und er war äußerst talentiert darin, Frauen das Gefühl zu geben, dass er eine Menge dreckige Dinge mit ihnen vorhat, eines besser als das andere. Nicht, dass ich da je drüber nachgedacht habe. Denn ich war ja mit Sven zusammen und sein bester Freund war ohnehin tabu und … okay, ja. Ich verziehe das Gesicht. Ich habe darüber nachgedacht. So wie jede Frau in Lillaström.
Aber es war Jans Ausstrahlung. Sein immer düsterer Blick, der versprach, dass er einen nicht ganz legalen Plan im Kopf hatte und den nächstbesten Typen, der ihm auf die Nerven ging, niederschlug. Und der Kerl ist Polizist geworden?
Klasse, das kann nur schlecht für mich enden.
Das Ding ist: Er hat mich nie gemocht. Schon damals nicht, als ich noch seinen besten Freund heiraten wollte. Und jetzt … Nun, jetzt sieht das wahrscheinlich nicht viel anders aus.
Seufzend lasse ich den Nacken kreisen und das Fenster runter. Jan bleibt direkt davor stehen, sieht zu mir herab … und erstarrt. Einige Sekunden lang sieht er mich nur verblüfft an. Dann zieht ein kleines, spöttisches Lächeln an seinem rechten Mundwinkel.
»Lovisa Sundberg«, wäscht seine warme, dunkle Stimme über mich hinweg, sodass mir die Nackenhaare zu Berge stehen. Er lässt sich den Namen hörbar auf der Zunge zergehen. »Mann, Mann, Mann. Die tiefgefallene Prinzessin von Lillaström ist zurück.«
Mein Kiefer arbeitet und ich verenge die Augen. Wie ich diesen Spitznamen gehasst habe. Noch immer hasse.
»Jan Lindqvist«, antworte ich angesäuert. »Der Stallbursche von Lillaström und Brecher aller Frauenherzen … dem sie eine Uniform angezogen haben. Wenn auch nur eine halbe.« Ich lasse den Blick vielsagend über seine Jeans wandern. »Liebe Güte: Wer zur Hölle hat sich bereiterklärt, dich zum Polizisten zu machen? Die Stadt weiß schon, dass du es warst, der damals alle Pferde von Bauer Larsson freigelassen hat, oder? Und dass du die Pfarrerstochter in der Kirche verführt hast? Du solltest keine Waffe mit dir führen dürfen, die benutzt du doch nur, um Frauen zu beeindrucken und dein Ego zu vergrößern.«
Er nickt langsam, seine Miene ausdruckslos, und schiebt die Hände in die Jackentaschen. »Immer eine gute Idee, den Polizisten, dessen Gnade du ausgeliefert bist, zu beleidigen.«
Ich verdrehe die Augen und streiche mir durch die Haare. »Ich habe nichts falsch gemacht.«
Jan antwortet nicht sofort und als ich widerwillig zu ihm aufsehe, bemerke ich, dass er mit verengten Augen forschend über mein Gesicht sieht, bis sein Blick der Bewegung meiner Hände folgt. Er runzelt die Stirn. »Deine Haare sind braun. Und kurz.«
»Jetzt weiß ich, warum sie dich zum Polizisten gemacht haben – deine Deduktionsfähigkeiten sind einfach unvergleichlich.«
Düster sieht er auf mich herab. »Sie waren früher blond. Und lang.«
»Ach, hast du mich deswegen angehalten?«, frage ich fröhlich. »Weil es jetzt verboten ist, sich die Haare färben und schneiden zu lassen?«
Er ignoriert mich. »Warum hast du sie gefärbt? Damit es Leuten schwerer fällt, dich zu erkennen?«
Ja. »Blödsinn. Es gefällt mir so besser.«
»Mir nicht.«
»Wie gut, dass mir deine Meinung egal ist«, belehre ich ihn mit übermäßiger Geduld in der Stimme, auch wenn sich mein Magen bei seinen Worten vor Ärger zusammenzieht.
Er stützt sich mit den Händen auf meinem Autodach ab und beugt sich vor, bevor er leise sagt: »Nun, das sollte sie nicht sein, denn in Lillaström ist mein Wort mittlerweile Gesetz … Falls du dir also irgendeinen Fehltritt erlaubst, werde ich dich persönlich zur Rechenschaft ziehen. Und weißt du was: Ich werde es mit Freude tun. Genau wie jetzt.« Er lächelt breit.
Ich presse die Lippen zusammen und schüttele den Kopf.
»Fünf Jahre nicht gesehen … aber du hasst mich immer noch, was?«
Langsam wiegt er seinen Kopf von der einen auf die andere Seite. »Nun, du hast meinen besten Freund vorm Altar stehen lassen …«
Ich schlucke und wende das Gesicht ab, das unangenehm heiß wird. Dass sich alle immer noch an dieser Kleinigkeit aufhängen. »Das hat niemand vergessen, was?«, frage ich angespannt.
»In Anbetracht der Tatsache, dass es das Interessanteste ist, was seit zehn Jahren hier passiert ist … nein.«
Einen Moment lang schließe ich die Augen. Als würde ich daran erinnert werden müssen. »Wunderbar. Und da fragen mich alle, warum ich nicht zurückkommen wollte.«
»Da wir gerade dabei sind: Warum bist du zurück?«
»Geht dich nichts an.«
»Elina und dein Vater brauchen Hilfe im Bed and Breakfest, oder?«
Verärgert beiße ich die Zähne aufeinander. »Wenn du es doch schon weißt, warum fragst du dann?«
Er zuckt die Schultern. »Um dich aufzuregen?«, bietet er an. »Also, bleibst du länger?«
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt«, sage ich knapp. »Apropos länger bleiben: Was tust du noch hier? Ich hab nicht in Erinnerung, dass du so gern bleiben wolltest. Zu ängstlich, um in die große weite Welt hinauszugehen?« Ich hätte darauf gewettet, dass Jan einer der ersten wäre, der die Stadt verlässt und nicht mehr zurücksieht. Zu viele schlechte Erinnerungen für ihn. Soweit ich weiß, wollte er immer in eine Großstadt ziehen.
»Na, wir können ja nicht alle unsere Familie im Stich lassen«, meint er lapidar. »Oder?«
In meinem Magen formt sich mittlerweile ein kleiner roter Ball aus Wut. Was denkt dieser Blödmann eigentlich? Dass ich vergessen habe, wie vielen Leuten ich vor fünf Jahren das Herz gebrochen habe? Wen ich alles zurückgelassen habe? Dass Sven ein gutes Recht hat, mich zu hassen, und meine Geschwister ebenso? Dass das hier leicht für mich ist?
Aber zur Hölle, ich war viel zu jung, um zu heiraten, all die schrecklichen Erwartungen lasteten auf meinen Schultern und ich hatte Angst, ehrlich zu sein, und alle waren so furchtbar glücklich für mich und Sven, allen voran mein Vater, der immer noch um meine Mutter getrauert hat, und …
Ich kneife die Augen zusammen und schüttele mir die Gedanken aus dem Kopf. Es ist egal. Es lohnt sich nicht, mich in diesen Abgrund zu stürzen.
»Lassen wir das«, sage ich leise. »Kann ich endlich weiterfahren?«
»Nein.«
»Und warum zum Teufel nicht?«
»Weil du zu schnell gefahren bist.«
Ich schnaube. »Blödsinn. Der Tacho hat kaum fünfzig angezeigt.«
»Was circa zwanzig km/h zu viel sind.«
Ungläubig öffne ich den Mund. »Was? Auf dieser Straße durfte man immer fünfzig fahren.«
»Seit zwei Jahren nur noch dreißig.«
»Das kann ich doch nicht wissen!«
Er hebt die Hand und deutet auf ein Straßenschild direkt vor mir, auf dem eine dicke, weiße Dreißig prangt.
Klasse.
Ich seufze und reibe mir über die Augen. »Das wusste ich nicht.«
»Unwissenheit schützt nicht.«
»Oh, komm schon, Jan! Es war ehrlich ein Fehler.« Zaghaft lächele ich ihn an. »Es wird nie wieder vorkommen.«
Seine Augenbrauen vereinen sich zu einer dunklen Linie. »Du hast dich nicht verändert, oder?« Ein bitterer Zug entsteht um seinen Mund. »Du denkst immer noch, dass du mit allem durchkommst, nicht wahr, Prinzessin? Dass du nur lächeln und winken musst und dir alle Welt zu Füßen liegt.«
Meine Zunge wird auf einmal schwer – denn er hat unrecht. Das denke ich nicht. Dachte ich noch nie. Ich war nur früher sehr erfolgreich darin, alle glücklich zu machen. Nur eben nicht so erfolgreich, mich selbst glücklich zu machen. Aber das sage ich ihm nicht. Denn es geht ihn nichts an.
»Dann schreib einen Strafzettel, Jan«, sage ich, presse mir Daumen und Mittelfinger auf die Nasenwurzel und fühle mich auf einmal unendlich erschöpft. Keine zwei Minuten in der Stadt und schon werden sämtliche Wunden wieder aufgerissen. »Tu, was du nicht lassen kannst. Drück es mir rein, erzähl allen, dass du es mir gezeigt hast. Du wirst sicherlich als Held gefeiert.«
Einige Augenblicke lang herrscht Stille. Dann gibt Jan ein unzufriedenes Brummen von sich. »Es macht mir den Spaß kaputt, wenn du so geknickt aussiehst.«
»Und es lässt dich fast menschlich wirken, dass du Mitgefühl zeigst.«
Seine Mundwinkel zucken. Nur einen Moment lang – aber ich sehe es genau. »Schön. Ich gebe dir eine Verwarnung. Weil ich einen guten Tag habe. Aber wenn ich dich das nächste Mal erwische, nehme ich dich direkt mit zur Polizeistation.«
Ich beiße auf meine Unterlippe, um mich vom Lächeln abzuhalten. »Na, wundervoll. Ich wollte schon immer mal mit Blaulicht fahren.«
Er schnaubt, wendet sich um und geht zurück zu seinem Wagen.
»Hey, Jan!«, rufe ich ihm hinterher. »Heißt das, du bist jetzt anständig geworden?« Ich gestikuliere zu seiner Uniform. »Du schwatzt nicht mehr x-beliebigen Frauen das Höschen ab, randalierst nicht an Bushaltestellen und klaust Wodka aus dem Hörnan?«
»Klar bin ich anständig«, antwortet er ruhig, bevor er gemächlich die Mundwinkel zu einem dreckigen Lächeln verzieht. Es trifft mich im Magen. Dort, wo es mich schon immer getroffen hat. Denn dieses Lächeln kenne ich. Es hat mich damals bis in meine Träume verfolgt. »Aber was hat denn das damit zu tun, ob ich Frauen noch immer ihre Höschen abschwatze?« Er senkt die Stimme. »Du bist nur neidisch, weil ich es nie bei dir versucht habe, Prinzessin. Weil du dich immer gefragt hast, ob der Stallbursche nicht besser im Bett ist als der König.«
Hitze schießt in meine Wangen und ich bin sehr froh, dass er mir den Rücken zuwendet und zurück zum Polizeiwagen stapft.
Mein Magen macht komische Sachen und ich schließe die Hände enger ums Lenkrad.
Japp. Es war damals definitiv besser, die Hochzeit abzusagen.
Kapitel 2
Lovisa
Zu behaupten, dass die Leute mich anstarren, als ich vor dem Bed and Breakfast aus dem Wagen steige, das seit mehreren Generationen unserer Familie gehört, wäre eine Untertreibung. Denn sie glotzen. Sie halten an, ziehen schockiert die Luft ein und manche deuten sogar mit dem Finger auf mich, bevor sie ihr Handy aus der Tasche holen. Sicherlich, um die Kunde zu verbreiten. Als wäre ich ein Rockstar. Nur eben einer der Sorte, die zu viele Drogen genommen hat und von ihren Fans aufgegeben wurde.
Mist, innerhalb von zwei Stunden wird die ganze Stadt wissen, dass die verlorene Tochter zurückgekehrt ist!
Ich versuche, sie so gut wie möglich zu ignorieren – was in etwa so leicht ist, wie so zu tun, als würde es mich nicht schockieren, wie heruntergekommen unser Familienetablissement ist.
Liebe Güte, als ich die Stadt verlassen habe, sah das Sundberghus ja schon nicht mehr gut in Schuss aus … aber jetzt? Jetzt wirkt es, als sei es kurz davor, den Fensterladen abzugeben. Aber vielleicht spielt mir die hereinbrechende Dunkelheit auch einen Streich. Oder es ist die Tatsache, dass es das einzige Haus in der gesamten Straße ist, das noch nicht weihnachtlich geschmückt ist. Die anliegenden, größtenteils dunkelroten Gebäude werden von bunten Lichtern und leuchtenden Rentierfiguren in winterlichen Glanz gehüllt. Das Sundberghus schaut im Vergleich wie ein lebloser Haufen Treibholz aus. So wie es aussieht, hat meine Schwester ihren Hass auf Weihnachten noch nicht überwunden.
Oh Mann. Ich bin wirklich zu lang nicht hier gewesen.
Ich ziehe meinen Koffer aus dem Wagen, schließe ihn ab und beeile mich, das Gepäck die wenigen Stufen zur Eingangstür hinaufzuziehen. Bevor die Bewohner Lillaströms noch auf die Idee kommen, von der Größe des Koffers aus darauf zu schließen, wie lang ich bleibe. Wenn sie wüssten, dass ich noch einen zweiten im Wagen habe …
Die Tür ist unverschlossen, so wie bereits die letzten fünfzig Jahre, und der alte Dielenboden knarzt unter meinen Schritten. Ich ziehe die Schuhe aus und hänge meine Jacke an die Garderobe … und im nächsten Moment poltern Schritte die alte Treppe zu meiner Linken herunter. Elina kommt ruckartig zum Stehen, als sie mich erblickt. Ihre blonden Haare trägt sie offen, sodass sie ihre Schultern streifen. Sie ist ungeschminkt, hat Jeans und Flanellhemd an und ihre typischen Gummistiefel stehen neben den Wildlederstiefeln, die ich gerade ausgezogen habe.
Sie ist die pragmatische Schwester. Die mutige Schwester. Die Bessere von uns beiden. Und verdammt, es tut gut, sie zu sehen. Nicht nur auf einem Computerbildschirm, sondern in echt.
Meine Augen fangen an zu brennen. Eine Menge Dinge in Lillaström habe ich problemlos zurückgelassen. Doch meine Familie gehört nicht dazu. »Na, Linni?«, frage ich und lächele wacklig.
»Also erstens: Nenn mich nicht so. Und zweitens: Du bist wirklich hier«, stellt sie verblüfft fest. »Ich habe fest damit gerechnet, dass du dein Auto in den Graben fährst, nur um die Nacht im Krankenhaus statt hier verbringen zu können.«
Ich muss lachen und lasse meinen Koffer los. »Danke, ich freu mich auch, dich zu sehen. Du bist genauso sensibel wie immer.«
Sie verdreht die Augen, kommt auf mich zu und nimmt mich in eine Bärenumarmung. »Ich bin froh dich zu sehen – auch wenn es etwa fünf Jahre zu spät ist. Ich muss mich nur an den Gedanken gewöhnen, dass du wirklich vor mir stehst.«
Ich schlucke und die Schuld sinkt auf mein Herz wie ein großer, schwarzer Stein. Die Wahrheit ist, dass sie das gute Recht hätte, wütend auf mich zu sein. Sie ist die stärkste Person, die ich kenne. Nach dem Tod unserer Mutter hat sie keine Sekunde lang gezögert, das Familienunternehmen zu übernehmen – obwohl sie damals erst zweiundzwanzig war und eine Menge dafür opfern musste. Während unser Bruder Bjorn seiner Leidenschaft als Schreiner nachging und ich … nun, ein paar Jahre später von der Bildfläche verschwand. Also ja, sie dürfte wütend sein. Doch so ist Elina nicht gestrickt. Sie käme nie auf die Idee, uns zu hassen. Sie hält ihre Enttäuschung und Wut immer eng am Herzen – doch ich weiß, dass sie da ist.
»Tut mir leid«, murmele ich, auch wenn die Worte hohl klingen – und sie gar nicht umfassen können, was ich wirklich empfinde.
»Mhm«, macht Elina nur und lässt mich los. »Komm erst mal rein. Lust auf Fika?«
Was für eine Frage. Ich habe immer Lust auf eine Kaffeepause … und die Zimtschnecken, die Linni stets parat hat.
»Wo ist Pappa?«, will ich wissen und folge ihr in die anliegende Küche.
»Er schläft schon. Im Anbau.« Sie nickt nach rechts, wo die Familienwohnung liegt, die unsere Eltern vor Jahrzehnten an das B&B angefügt haben, und zieht zwei Kaffeetassen aus dem Oberschrank.
»Es ist kaum sechs«, stelle ich verblüfft fest und schlendere zur Kaffeemaschine.
Sie zuckt die Schultern. »Er ist müde.«
Seufzend fülle ich Kaffee nach und stelle die Maschine an. »Wie geht’s ihm denn?«, frage ich zögerlich.
»Weißt du, wie er am Telefon mit dir spricht?«, meint Elina und befördert ein paar Zimtschnecken aus einer Brotbox.
»Zweisilbig?«
»Genau. Und so redet er auch im echten Leben. Er ist noch grummeliger als ohnehin schon, seit er sich das Bein gebrochen hat.«
»Oh Mann.«
»Japp«, bestätigt sie und stellt den Teller mit dem Gebäck auf den Tisch, bevor sie mich forschend mustert. »Wie lang willst du bleiben, Lovisa?«
Sie erwartet, dass ich Bis morgen sage, oder? »Ich weiß nicht«, murmele ich und zucke die Schultern. »Auf mich wartet niemand, also … solange du Hilfe brauchst.« Denn ich will sie ihr wirklich geben! »Meine Wohnung ist zumindest bis Ende Dezember untervermietet.«
»Niemand wartet auf dich?«, fragt sie überrascht. »Kein Freund? Hattest du nicht …«
»Nein«, unterbreche ich sie und winke ab. Denn mein Liebesleben ist kein wünschenswertes Gesprächsthema.
Seit der Sache mit der geplatzten Hochzeit habe ich einfach kein Händchen mehr für Männer. Den perfekten Mann habe ich schließlich fallen lassen, was viele Menschen an meiner geistigen Gesundheit hat zweifeln lassen – mich zu Anfang auch. Aber es ist das Richtige gewesen. Doch seitdem bin ich … verhext. Zumindest bin ich seitdem nicht einmal wirklich verliebt gewesen.
»Okay«, sagt Elina und hört sich erleichtert an. »Das ist schön. Ich kann die Hilfe wirklich gebrauchen. Du kennst Pappa, ihn kann man nicht auf Gäste loslassen, und mit dem gebrochenen Bein …« Sie fährt sich übers Gesicht. »Egal, jetzt bist du ja da!«
Ja, jetzt bin ich da. Juchhu. »Was ist mit Bjorn?«, will ich wissen. »Hilft er nicht?«
Sie presst die Lippen aufeinander. »Bjorn hat seinen eigenen Job, immer viel zu tun … und er kann mir ohnehin nicht wirklich bei der Bekämpfung des Feindes helfen.«
»Feind?«, echoe ich überrascht.
»Er hat ein Hotel eröffnet«, meint sie bitter. »Direkt am See. Sie sind noch im Umbau, haben aber schon Gäste – und nehmen uns die Kundschaft weg.«
Ungläubig sehe ich sie an. »Bjorn hat ein Hotel eröffnet? Ich hab vor ein paar Wochen noch mit ihm telefoniert, er hätte doch …«
»Natürlich nicht Bjorn«, unterbricht sie mich ungeduldig. »Niklas. Er leitet es.«
Ich weite die Augen. »Niklas? Dein Niklas?”
»Er ist nicht mein Niklas!«
»Nein, aber er war es mal.« Auch wenn das zehn Jahre her ist.
»Ist auch egal«, sagt sie unwirsch und lässt sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen. »Er ist auf jeden Fall zurück und will uns anscheinend in den Ruin treiben. Als hätte er nicht bereits genug ruiniert.«
Oh, wow. Kein Wunder, dass Linni noch angespannter wirkt als sonst.
»Was soll’s.« Sie zuckt die Schultern und nimmt den Kaffee entgegen, den ich ihr reiche. »Lass uns das Thema wechseln. Hast du Sven schon getroffen?«
Ich ziehe eine Grimasse. »Nein. Aber Jan.«
»Oh. Der wird ähnlich gut auf dich zu sprechen sein.«
Ja. Obwohl er zumindest am Ende Mitleid mit mir hatte. »Er wollte mir ein Bußgeld fürs Schnellfahren aufdrücken …«, murmele ich griesgrämig. »Warum hast du nie gesagt, dass er noch hier wohnt? Und Polizist ist? Ich meine … Was macht er noch hier? Andres und Sven hätte man nicht wegbekommen. Aber er wollte doch immer nach Stockholm gehen.«
»Er konnte nicht«, sagt Elina überrascht. »Habe ich dir das damals wirklich nicht erzählt? Seine Mutter ist vor vier Jahren gestorben. Gerade, als er seinen Abschluss in der Tasche hatte und nach Stockholm ziehen wollte, um Kommissar zu werden oder was auch immer. Aber seine Schwester war erst zwölf und irgendwer musste auf sie aufpassen und er wollte sie nicht aus ihrem gewohnten Umfeld ziehen … also ist er geblieben.«
Mein Mund wird auf einmal trocken, während ich Elina anstarre. »Nein«, hauche ich. »Das hast du nicht erwähnt.« Ich kneife die Augen zusammen und stöhne. Das habe ich nicht gewusst. Möglicherweise bin ich vorhin etwas taktlos gegenüber Jan gewesen. Als ich ihn verspottet habe, dass er Lillaström noch immer nicht hinter sich gelassen hat.
Na, wir können ja nicht alle unsere Familie im Stich lassen.
»Mist«, flüstere ich. »Hierher zurückzukehren ist bis jetzt genauso schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich trete direkt in ein Fettnäpfchen – und die ganze Stadt hasst mich und versucht mich mit Blicken zu erdolchen.«
»Ich hasse dich nicht. Meistens«, bietet Elina großzügig an.
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