Unlock My Heart – Leseprobe

Prolog

Lexie


Du hast nur ein Leben …

So begann der letzte Satz, den meine Großmutter mir mit auf den Weg gab.

Du hast nur ein Leben, mein Schatz, also mach das Beste daraus.

Aber das Beste, was man aus fünf Dollar sechzig, einem rostigen Fahrrad und einem älteren Bruder, der seine Gitarre und seine Freiheit sehr viel mehr liebt als ein festes Einkommen, machen kann, ist nicht besonders gut. Die Welt will dir weismachen, dass du alles erreichen kannst, wenn du es nur wirklich willst. Fernsehserien zeigen dir, dass du nur hart arbeiten und an dich glauben musst, um erfolgreich zu sein. Dass dir gute Dinge widerfahren, wenn du gute Dinge tust. Aber niemand sagt dir, dass das nicht für alle Menschen gilt. Dass du deine Träume nur erreichen kannst, wenn du überhaupt die Zeit findest, sie zu träumen.

Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede. Denn ich habe es versucht. Auf die gute Art und Weise. Auf die richtige Art und Weise. Ich habe mich kaputt gearbeitet. Ich habe gespart, ich habe alten Damen über die Straße geholfen, ich habe weder getrunken noch geraucht, doch „das Beste“, was ich aus meinem Leben machen konnte, war trotzdem nie genug. Denn meine Großmutter hat vergessen, eines zu erwähnen: Die Welt ist nicht fair.

Das Leben ist wie ein Monopoly-Spiel. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Und manche Menschen werden nie über Los kommen, egal, wie schnell sie laufen, oder sich gar ein Haus auf der Schlossallee leisten können. Also muss man die Würfel zinken. Die Gemeinschaftskarten selbst schreiben. Ein paar Regeln brechen, sich über das Spielfeld schummeln. Aufpassen, nicht erwischt zu werden.

Meine Großmutter hat gesagt, man hat nur ein Leben. Eine Chance. Einen Namen. Aber sie hat sich geirrt.

Man kann Dutzende Leben haben. Tausende neue Chancen. Etliche Namen. Man muss nur wissen, wie man einen Ausweis fälscht. Aber keine Sorge, Grams. Ich mache das Beste draus.

Kapitel 1

Lexie

Ich sah es eigentlich nicht als meine Aufgabe, über Steine nachzudenken. Selbst wenn ich Zeit für ein Hobby gehabt hätte, würde ich mich nicht unbedingt mit kompakten toten Mineralobjekten beschäftigen. Ich wollte Geologen nicht zu nahetreten, aber es gab eine Menge interessantere Dinge, mit denen man sich die Zeit vertreiben konnte. Dreckige Wattestäbchen zum Beispiel. Flusen im Bauchnabel. Eine Plastiktüte im Wind.

Trotzdem wanderten meine Gedanken wie jeden Donnerstag um zwölf Uhr mittags unweigerlich zu weißem Marmor. Dem Gestein, das meiner Meinung nach aussah, als wären auf ihm zu viele Insekten mit einem Hammer getötet worden. Er glänzte zu grell und wirkte selbst im hellsten Sonnenschein noch kalt. Es war mir schleierhaft, wie jemals jemand auf die Idee hatte kommen können, dass es eine gute Investition sei, eine gesamte Universität mit dem teuren Material auszukleiden. Es musste jemand gewesen sein, der mehr Geld als Gehirnwindungen hatte und außerdem blind war. Vermutlich dieselbe Person, die runde Säulen für anbetungswürdig und goldverzierten Stuck für den letzten Schrei hielt. Jemand, der, ohne mit der Wimper zu zucken, Wörter wie pittoresk und blasiert in den Mund nahm und herablassend lachte, wenn man sie fragte, warum sie so komisch redete.

Kurz gesagt: der Typ Mensch, der die University of Golden Heights besuchte. Der Typ Mensch, der jeden Donnerstag um zwölf Uhr mit seinen Gucci-Handtaschen und Armani-Hemden um mich herumwuselte. Der für einen Friseurbesuch mehr zahlte als ich für meine monatlichen College-Gebühren. Der einen Treuhandfonds besaß, mit dem er eine hawaiianische Insel und ein Sommerhäuschen auf dem Mond kaufen könnte. Dessen Notendurchschnitt nicht gut genug gewesen war, um an einer Elite-Universität wie Harvard, Yale oder Princeton angenommen zu werden, dessen Kontostand aber definitiv hoch genug war, um sich in diese teure, renommierte Privatuni einzukaufen.

Okay, ich übertrieb vielleicht ein bisschen. Es gab auch normale Leute hier. Mädels und Jungs, die in Kapuzenpullover und Jeans oder Leggins herumliefen. So wie meine beste Freundin Carly. Doch das war eher die Ausnahme als die Regel.

Und ich störte mich überhaupt nicht daran.

Im Gegenteil. Es war der einzige Grund, warum ich hier war. Denn all diese unfreundlichen und selbstverliebten Schnösel finanzierten mir meine Bildung und Miete.

Wieder ließ ich den Blick über den Golden Yard, den ältesten Teil des Universitätscampus, schweifen, hielt Ausschau nach potenziellen Kunden, die schüchtern zu mir herübersahen und versuchten, den Mut zu finden, mich anzusprechen.

Lächelnd biss ich von meinem Erdnussbuttersandwich ab, während ich einen meiner Perlenohrringe zwischen den Fingern drehte. Die Stecker fühlten sich wie Fremdkörper an und juckten in meinen Ohrlöchern. Vielleicht, weil sie in etwa so echt waren wie die Ausweise in meiner Tasche und ich eine Nickelallergie hatte. Vielleicht aber auch, weil sie alles repräsentierten, was ich innerhalb des letzten Jahres gelernt hatte, zu verabscheuen. Wer konnte das schon wissen? Ich wunderte mich jedes Mal darüber, dass ich auf dem Rand des – natürlich marmornen – Springbrunnens sitzen konnte und nicht merkwürdig von der Seite angeguckt wurde. Denn eigentlich passte ich hier in etwa so gut hin wie Schokolade in eine Zahnpastatube. Aber ich hatte gelernt, mich anzupassen.

Meine Bluse war rosa und gebügelt, mein Faltenrock knielang und meine Strumpfhose ungewohnt löcherlos. Die blonden Haare hatte ich zu einem ordentlichen, hohen Pferdeschwanz gebunden, der zusammen mit dem Sonnenlicht meinen Nacken kitzelte. Carly meinte immer, ich sähe in meiner Aufmachung aus wie das Mädchen, das Ken gedatet hätte, bevor er Barbie kennengelernt hatte. Mein großer Bruder Ty hingegen war der Auffassung, dass ich mich in meinem Aufzug auch für eine christliche Girlgroup casten lassen könnte. Aber beide lagen falsch. Ich sah schlichtweg aus wie jemand, der hier aufs College ging – auch wenn ich mich hoffentlich nicht so anhörte.

„… macht mich wahnsinnig! Wenn ich meinen Major nicht zu Jura wechsle, will er mir den Porsche wegnehmen!“, drang es genervt durch das Plätschern des Springbrunnens zu mir herüber. Es war eine typisch männliche Schnöselstimme. „Ich will mich ausprobieren, bevor es ernst wird. Ist das zu viel verlangt?“

„Überhaupt nicht“, kam die mitfühlende Antwort. Der Stimme nach von einem Mädchen. „Es ist nicht fair von deinem Vater, dir zu drohen. Du hast dir den Porsche verdient.“

„Eben!“, erwiderte der Typ gepresst. „Ich hab doch nicht umsonst meinen Schnitt um zwei Punkte verbessert!“

Das Mädchen seufzte. „Bei mir ist es egal, wie sehr ich mich verbessere. Meine Mutter lässt mich ja doch nicht Make-up-Artistin werden. Weißt du, was sie gesagt hat, als ich ihr davon erzählt habe? Dann kannst du auch gleich unter einer Brücke wohnen! Also werde ich wohl Ärztin.“

Ich verdrehte die Augen, was dank der Sonnenbrille auf meiner Nase niemand mitbekam. Die Probleme, mit denen sich die Reichen und Schönen herumschlugen, waren lächerlich. Aber ihre Träume unterschieden sich nicht sonderlich von denen normaler Menschen. Denn egal, ob reich oder arm, hübsch oder hässlich, klug oder dumm, auf dem College wollten alle in erster Linie nur eines werden: einundzwanzig.

Ich selbst war schon einundzwanzig und konnte nicht behaupten, dass es besonders toll war, aber ausreden wollte ich meinen Kunden ihren Wunsch dann auch nicht. Schließlich war ich die gute Fee, die ihn erfüllte.

Allerdings mit etwas mehr Stil und nicht ganz so selbstlosen Gründen wie meine Namensvetterin aus Cinderella.

„Debbie?“

Ich blinzelte und sah verwirrt auf.

Vor mir stand ein sommersprossiger, schlaksiger Kerl mit orangen Haaren, der erwartungsvoll die Augenbrauen hob. „Du bist doch Debbie, oder?“

Oh. Richtig. Hier war ich Debbie.

„Ja“, sagte ich hastig und lächelte. „Wer will das wissen?“

Ich holte mir immer zuerst den Namen eines potenziellen Kunden ein. Namen waren ein gutes Druckmittel und die hiesigen Studenten meistens nicht schlau genug, mir einen falschen zu geben.

„Ähm, Tobias McGerry“, erwiderte er und warf einen schnellen Blick über die Schultern, als rechnete er mit einem SWAT-Team, das ihn im nächsten Moment zu Boden werfen und einbuchten würde.

Ich nickte und machte mir eine mentale Notiz, bevor ich fragte: „Wer hat mich dir empfohlen?“

Ich akquirierte meine Kundschaft ausschließlich über Mund-zu-Mund-Propaganda und wusste, wem ich trauen konnte und wem nicht. Ich verkaufte nur an Leute, die über Kunden von mir wussten, mit denen ich bereits erfolgreich Geschäfte gemacht hatte.

„Chester Borrow“, sagte er nervös und rang die Hände. 

Ah. Ja, der war vor ein paar Wochen bei mir gewesen. Hatte pünktlich gezahlt und war zufrieden mit dem Ergebnis gewesen.

„Wunderbar.“ Mein Lächeln wurde breiter, und ich klopfte auf den freien Platz neben mir. „Was kann ich für dich tun, Tobias?“

„Na ja …“ Etwas unbeholfen sank er neben mich, während sein Blick noch immer unruhig von links nach rechts huschte.

„Könntest du aufhören, dich ständig umzusehen?“, bat ich ihn höflich. „Das wirkt so, als würden wir etwas Illegales tun.“

Er lachte nervös auf. „Aber wir tun etwas Illegales“, stellte er mit gesenkter Stimme fest.

„Blödsinn. Wir unterhalten uns“, meinte ich fröhlich. „Soweit ich weiß, ist das im Staate Kalifornien nicht verboten. Also, erzähl mir doch mal … Was wünschst du dir zum Geburtstag?“

Er wischte sich die deutlich sichtbaren Schweißtropfen unter den Augenbrauen weg, bevor er murmelte: „Einen Ausweis.“

Ich unterdrückte ein Grinsen. „Kein Problem. Hast du ein Passfoto dabei?“

„Ja.“ Ungelenk tastete er die Taschen seiner Anzughose ab, bevor er eine kleine Papiertüte hervorzog und sie mir in die Hand drückte. „Da ist auch schon der Vorschuss drin.“

Fantastisch. Chester Borrow hatte ihm offenbar schon die Einzelheiten des Deals erklärt, damit blieb mir diese lästige Aufgabe erspart.

„Na dann …“ Ich ließ die Tüte in meine Handtasche gleiten, ohne reinzusehen. „Du darfst dich freuen. Nächste Woche um dieselbe Zeit, am selben Ort feierst du deinen einundzwanzigsten Geburtstag. Entschuldige, wenn ich keinen Kuchen mitbringe. Aber in meinem Umfeld werden andauernd Leute einundzwanzig.“

Wieder kicherte der Rotschopf nervös. „Okay. Danke. Nun, da wäre noch etwas“, meinte er, bevor er sich zum hundertsten Mal über die Schulter umsah, während er mit den Fingern unruhig auf den kalten Marmor des Brunnens klopfte.

Ich unterdrückte ein Seufzen. Die reichen Leute waren immer so paranoid. Dabei mussten sie sich doch gar keine Gedanken machen. Wenn sie erwischt wurden, konnten sie sich einfach freikaufen. Ich hingegen würde in einer schnuckeligen Gewahrsamszelle landen. Schon wieder.

„Wir werden nicht beobachtet, Tobias“, sagte ich mit Nachdruck. „Niemand …“ Ich brach ab. Denn es stimmte nicht. Jemand sah zu uns herüber.

Er war mir zuvor nicht aufgefallen, weil ich immer nur auf die Studenten am Rande des Golden Yards achtete, die sich im Schatten herumdrückten, und nicht auf die Rasenfläche uns gegenüber. Doch genau dort saß ein Kerl und starrte uns an.

Wobei, nein, eigentlich starrte er nur michan.

Er hatte dunkle Locken, dunkle Augen, deren Farbe ich aus der Ferne nicht genau erkennen konnte, und ein arrogantes Lächeln, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten. In diesem Moment war ich froh, dass ich die Sonnenbrille trug, sodass er nicht sehen konnte, dass ich ihn ebenfalls anstarrte. Auch wenn er selbst sich nicht sonderlich Mühe gab, seinen Blick zu verbergen. Im Gegenteil. Er saß gegen eine große Palme gelehnt da. Trug ein weißes Hemd und eine dünne schwarze Krawatte, als hätte er ein Meeting mit Elon Musk, nicht mit einem Baum. Er hatte den Kopf schiefgelegt und die Hände im Nacken verschränkt. Den blonden Typ neben ihm, der auf ihn einredete, ignorierte er großzügig, um mich stattdessen weiter anzustarren.

Warum zur Hölle tat er das? Ich war nicht hübsch genug, um solch eindringliche Blicke zu verdienen, und Tobias leider auch nicht.

„Ja, du hast recht, tut mir leid.“ Tobias’ Worte rissen mich aus meiner Starre. Er schien nichts von den Warnleuchten, die in meinem Kopf angesprungen waren, mitbekommen zu haben. „Nun, ich hab gehört, du …“ Er senkte verschwörerisch die Stimme und beugte sich auffällig unauffällig zu mir vor. „… du kannst auch die Lösungsbögen für Prüfungen besorgen?“

Der dunkelhaarige Typ wandte sich von mir ab und antwortete seinem blonden Freund.

Erleichtert ließ ich die Schultern sinken. Offenbar war ich es, die paranoid wurde. Dann sah ein Mann mich eben länger als gewöhnlich an. Das passierte. Vielleicht war er Künstler, und das Sonnenlicht hatte faszinierende Effekte in meine Haare gezaubert. Was wusste ich schon.

„Ja“, antwortete ich Tobi und löste den Blick von Mr. Starr-mich-tot. „Aber das ist teuer.“

„Ja, also … Geld spielt keine Rolle.“

Ich presste die Lippen zusammen und nickte. Natürlich nicht. Das tat es bei niemandem hier. „Wann ist die Prüfung und bei wem?“, hakte ich nach.

„Steht auf einem Blatt in der Tüte.“

Mein Magen verkrampfte sich und ich kratzte mir die Wange, während ich auf einen der Risse im weißen Marmor des Brunnens starrte. Ich mochte diese Art Auftrag nicht sonderlich gern. Einen Ausweis zu fälschen, war die eine Sache. Den Server eines Professors zu hacken oder womöglich in sein Büro einzubrechen, etwas gänzlich anderes. Aber diese Aktionen brachten das meiste Geld ein, und ich befand mich leider nicht in der finanziellen Lage, mir ein Gewissen oder auch nur ein ausgeprägtes Moralgefühl leisten zu können. Sosehr ich es also hasste, zu was für einem Menschen es mich machte … ich nickte.

„Geht klar“, sagte ich. Bei dem Termin bleibt es. Und begrüß mich das nächste Mal mit einer Umarmung und einem Lächeln auf dem Gesicht, in Ordnung? Als wären wir alte Freunde, die lediglich ihre Notizen für die Medizinvorlesung austauschen.“

Perplex sah Tobias mich an. „Aber ich studiere Kunstgeschichte.“

Ich seufzte schwer und zog Zettel und Stift aus meiner Rocktasche, um eine Summe darauf festzuhalten. „Tu es einfach, okay? Und ich will das Geld in bar und in einer Butterbrotdose.“

„Butterbrotdose? Weil es so unauffälliger ist?“, hakte Tobias nach.

„Genau“, erwiderte ich betont ernst. Dass mein Bruder andauernd meine Tupperware verschlampte und ich dringend neue brauchte, ging ihn nun wirklich nichts an.

„Mhm, klar. Danke“, wisperte der Klon vom verschollenen Bruder von Pippi Langstrumpf, bevor er aufsprang und im nächsten Moment über den Hof in Richtung Hauptgebäude floh.

Kopfschüttelnd sah ich ihm nach, bevor mein Blick automatisch zurück zu der Wiese und der großen Palme glitt … Doch der dunkelhaarige Typ war verschwunden.

Gut so.

Ich warf einen Blick auf meine Uhr, die mir bestätigte, dass meine Sprechzeiten vorbei waren, und schulterte meine Handtasche. Wenn ich mich beeilte, konnte ich zu Hause noch den ekligen pinken Lippenstift abwischen und den Aufsatz zu Ende schreiben, den ich bis spätestens Sonntag abgeben musste, bevor ich wieder aufbrach, um meinen Abendkurs in Finance zu besuchen. Noch zwei Jahre, dann würde ich meinen Abschluss in der Tasche haben. Dann könnte ich endlich anfangen, auf vernünftige Art und Weise Geld zu verdienen.

Keine dubiosen Geschäfte mehr. Keine Fälschungen. Keine Diebstähle.

Eine neue Stadt, vielleicht sogar ein neues Land, ein stinknormaler Job bei irgendeiner Bank oder einem anderen seriösen Wirtschaftsunternehmen, und mein Leben könnte endlich richtig beginnen. Ich musste nur noch Carly und meinen Bruder Ty von diesem Plan überzeugen. Denn ohne sie würde ich nicht gehen.

Ich schob die Sonnenbrille mit dem Zeigefinger höher meine Nase hinauf und lief den gepflasterten Weg um die Uniwiese herum zum Ausgang des Campus auf der anderen Seite. Diverse marmorne Büsten, die irgendwelche alten weißen Männer darstellten, folgten mir mit ihrem urteilenden Blick. Ich streckte ihnen die Zunge raus. Wie konnten reiche Leute selbst in toter Marmorform noch derart arrogant sein? Wie …?

Jemand stieß heftig gegen meine Schulter, und überrascht taumelte ich zur Seite. Meine Handtasche glitt zu Boden, schlug mit einem dumpfen Ton auf und ergoss ihren Inhalt vor meine Füße. Leider gehörten dazu die Papiertüte mit den Infos von Tobias McGerry und drei verschiedene Ausweise. Alle mit meinem Gesicht, jedoch unterschiedlichen Namen. Alle einfach nur in meine Tasche gesteckt, denn wenn ich sie in meinem Portemonnaie aufbewahrte, kam ich andauernd durcheinander.

„Kannst du nicht aufpassen?“, blaffte ich, schob die Sonnenbrille auf meinen Kopf und hockte mich auf den Boden, um hastig die Habseligkeiten aufzuheben.

„Oh, bitte. Es war deine Schuld“, kam es dunkel von oben. „Du warst abgelenkt, weil du den toten Typen die Zunge rausgestreckt hast.“

Wut stieg in mir hoch, als ich an dem Paar langer Beine hinaufsah, das sich vor mir aufgebaut hatte. „Schwachsinn! Du …“ Doch die Worte blieben mir im Halse stecken. Erschrocken ließ ich einen der Ausweise – den für das Community College, das ich besuchte – wieder fallen.

Es war der Typ von der Palme.

„Ich …?“, hakte er nach und hob eine Augenbraue.

„Du … du hast mich umgerannt“, schloss ich etwas lahm.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick interessiert über die Dinge schweifen, die meiner Handtasche entkommen waren.

Mein Magen zog sich zusammen, und meine Bewegungen wurden sofort hektischer. Ich mochte neugierige Blicke noch weniger als Rosenkohl.

„So schnell war ich nicht“, fuhr er fort. „Wenn, dann habe ich dich umgeschlendert.“

Ich verdrehte die Augen, doch mein Herzschlag beruhigte sich erst, als auch das letzte verräterische Stück Plastik in meiner Tasche verschwunden war. Schwer atmete ich durch, klopfte den Dreck von meinen Knien und stand wieder auf. „Ist mir egal, was du getan hast“, erklärte ich sachlich. „Tu es einfach nicht noch einmal.“

Mein Gegenüber hob einen Mundwinkel, und schlagartig wurde mir warm. Ich hatte es vorhin auf die Entfernung nicht so deutlich wahrgenommen, aber er sah gut aus. Auf diese klischeehafte „Ich habe einen kantigen Kiefer, etwas zu lange Haare und lächerlich breite Schultern“ Art und Weise. Eben die, über die man, wenn man es in Büchern las, nur die Augen verdrehen konnte, weil man sich fragte, ob den Autoren und Autorinnen denn nichts Besseres und Originelleres einfiel.

Gott sei Dank war ich gegen gutes Aussehen immun.

„Hey“, sagte er und streckte die Hand aus. „Ich bin Logan.“

„Schön für dich“, antwortete ich knapp, ignorierte seine ausgestreckte Hand und schulterte meine Tasche.

„Und du bist?“, wollte er wissen.

„In Eile.“

„Seltsamer Name. Deine Eltern müssen Hippies gewesen sein.“

Ich schnaubte und verzichtete auf eine Antwort. Stattdessen wandte ich mich ab. Sein Blick war zu intensiv und verursachte ein Prickeln in meinem Nacken. Ich wollte nicht, dass er mein Gesicht länger als nötig studierte, also schob ich die Sonnenbrille wieder über meine Augen und ging an ihm vorbei.

„Hey“, rief er mir nach, sobald ich meinen zweiten Schritt getan hatte.

Widerwillig drehte ich mich um. „Was?“

Er trat langsam näher. Die Hände lässig in den Taschen, doch die Augen misstrauisch verengt.

Blau. Sie waren dunkelblau. Von unendlich langen und dunklen Wimpern umrandet, die ihn feminin hätten aussehen lassen können … doch das Gegenteil war der Fall.

„Du bist zu auffällig“, murmelte er. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Ich blinzelte ihn an. „Wie bitte?“

„Du bist zu auffällig“, wiederholte er. „Jeden Donnerstagmittag um zwölf Uhr sitzt du an derselben Stelle auf dem Campus … Ich beobachte dich seit drei Wochen, und du hast es nicht einmal mitbekommen.“

Mein Puls schoss in die Höhe, und meine Handflächen wurden feucht, doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich hatte bereits als kleines Kind gelernt, meine Emotionen zu verbergen und Angst niemals an die Oberfläche dringen zu lassen. Dieser reiche Schönling war kein Gegner für mich. Statt also zitternd einzuatmen oder gar wegzulaufen, verzog ich den Mund zu einem süßlichen Lächeln.

„Hör mal“, sagte ich seelenruhig und sah ihn fest an. „Larry war dein Name?“

Er hob nun ebenfalls die Mundwinkel. „Logan.“

„Schön, Wolverine. Dann Logan. Ich bin nicht interessiert, okay? Nicht an dieser Unterhaltung, nicht an deiner Meinung zu Dingen, die du glaubst, gesehen zu haben oder zu wissen. Ich habe es eilig. Hättest du also die Güte, mich in Ruhe zu lassen?“

Er bewegte sich kein Stück und verzog auch keine Miene. Stattdessen ließ er den Blick gemächlich über mich wandern. Von meinen Fußspitzen, über meine dünne Nylonstrumpfhose, den dunkelblauen Rock, bevor er scheinbar jeden einzelnen Knopf meiner Bluse abtastete, bis er wieder an meinem Gesicht ankam.

Meine Haut kribbelte, und Hitze strömte durch meinen Körper. Ich war lange nicht mehr so angesehen worden. Als wäre jeder Zentimeter von mir interessant. Am liebsten hätte ich einen Schritt zurückgemacht, so groß war das Bedürfnis nach Distanz. Doch ich blieb, wo ich war. Wenn du zurückweichst, wirkst du schuldig. Also, was immer auch passiert, bleib in deiner Rolle.

„Gott“, murmelte Logan kopfschüttelnd. „Du gehörst hier so offensichtlich nicht hin wie ein Schneemann an den Strand.“

Mein Hals wurde trocken, doch ich würde ihm nicht die Genugtuung geben, mich zu räuspern. „Ich weiß nicht, wovon du redest“, sagte ich mit fester Stimme. „Ich gehöre hier genauso hin, wie du es tust.“

„Nein. Du gehst hier nicht zur Uni“, erwiderte er. „Du bist nur ein ungebetener Gast.“

„Und wie, wenn ich fragen darf, kommst du auf diese lächerliche Idee?“, wollte ich betont gelangweilt wissen.

„Erstens: deine Schuhe. Zweitens …“ Das Lächeln auf seinem Gesicht breitete sich weiter aus. „Du hast offensichtlich keine Ahnung, wer ich bin. Und das solltest du wirklich wissen.“ Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und ließ mich stehen.

Er rannte nicht. Er eilte nicht. Er schlenderte. Als hätte er alle Zeit der Welt.

Mit wild klopfendem Herzen sah ich ihm nach. Was zur Hölle war das gewesen? Ich schluckte mehrfach, richtete die Sonnenbrille gerade und ging dann ebenfalls ruhigen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung zum Ausgang.

Erst als ich vor dem schmiedeeisernen Tor stand, das die Grenze des Campus markierte, sah ich auf meine Füße. Staub, Dreck und ein Fleck eingetrocknete Tomatensoße klebten wie ein Schuldeingeständnis an meinen Schuhen.

Shit.

Zum Buch*

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