Ein bisschen Vertrauen, bitte! – Leseprobe

Prolog

 

Eden Bay, 2003

Lieber Sawyer,

ich habe das Problem des Lebens ergründet: Wir Menschen machen uns absichtlich unglücklich.

Wir wollen haben, was wir nicht haben können. Wir lieben, was wir nicht lieben dürfen. Wir kämpfen, obwohl wir aufgeben sollten. Wir warten, auch wenn es längst zu spät ist. Wir halten an Beziehungen fest, die ihr Ablaufdatum längst überschritten haben.

Und ich hasse dich dafür, dass du der Grund bist, dass ich das endlich verstanden habe.

Ich hasse jede Träne, die ich deinetwegen vergossen habe. Ich hasse es, dass du mir mein Baumhaus als Zufluchtsort genommen hast. Ich hasse es, dass ich überall dein Gesicht sehe. Und am meisten hasse ich es, dass ich so schlecht darin bin, dich zu hassen. Dass du der einzige Mensch bist, der wüsste, wie er mich trösten könnte – und dass du nicht hier bist, um mir zu helfen.

Ich bin so wütend auf dich, Sawyer. So verdammt wütend. Du hast dich nicht einmal verabschiedet. Es ist, als wärst du niemals hier gewesen.

War das dein Ziel? Wolltest du mich so sehr verletzen, dass es mir leichter fällt, dich zu vergessen?

Ich weiß nicht, wo du bist, Sawyer. Vielleicht erreicht dich dieser Brief auch gar nicht. Ich habe keine Ahnung, wie das in der Army funktioniert. Es ist mir auch egal. Könntest du mir nur einen Gefallen tun?

Lass dich bitte nicht umbringen. Du schuldest mir noch eine Erklärung. Und einen Abschied.

Katie

 

P.S. Ich wollte dir den Anhänger im Umschlag zum Geburtstag schenken. Du bist gegangen, bevor ich es tun konnte – und es käme mir falsch vor, ihn zu behalten. Also nimm ihn. Er wird auf dich aufpassen.

 

Kapitel 1

Eden Bay, 2003

Lieber Sawyer,

wenn die Leute doch wissen, dass ich aggressiv bin, warum machen sie mich dann darauf aufmerksam, dass ich aggressiv bin? Kannst du mir die Logik dahinter erklären?

Ich weiß, dass ich gemein bin. Dass ich gereizt und ungeduldig bin. Mir ist klar, dass ich mich zusammenreißen sollte. Aber seit Jared weg ist, ist Mom unerträglich geworden. Sie wird nicht müde, mir die Fehler aufzuzählen, die Dad in ihrer Ehe gemacht hat.

Aber hey, ich habe ein Auto von Dad bekommen. Als Entschuldigung dafür, dass er mich im Supermarkt angeschrien hat. Ich hatte die Einkaufsliste vergessen.

Gott, nach der Schule bin ich sofort hier weg. Vielleicht ziehe ich zu Jare nach New York. Er braucht jemanden, der auf ihn aufpasst. Sonst schwängert er noch die halbe Stadt.

Lass dich nicht umbringen. Du schuldest mir noch eine Erklärung. Und einen Abschied.

Katie

Kate Sullivan fiel es schwer, ein guter Mensch zu sein.

Es war nicht so, dass sie nicht wusste, wie sich ein Vorzeigeexemplar ihrer Spezies zu benehmen hatte. Sie sah es nur oftmals nicht ein, sich die Mühe zu machen. Denn es war so verdammt anstrengend.

Wenn ihr die Schlange an einer Kasse zu lang war, drängelte sie sich unauffällig vor. Wenn eine Möwe einem Kind das Eis aus der Hand wegschnappte, lachte sie laut. Wenn ihre Mutter anrief, hob sie meistens nicht ab. Und ja, wenn ihr jemand den Parkplatz klaute, dann brüllte sie den inkompetenten Vollidioten lauthals an.

»Ich stehe seit drei beschissenen Minuten hier!«, schrie sie dem bärtigen Mann entgegen, der mit puterrotem Gesicht aus seinem Auto stieg. Er sah aus wie eine heruntergekommene Version des Weihnachtsmanns, die anstelle von Milch eine Menge Bier getrunken hatte. »Ich habe artig geblinkt und gewartet. Ich habe alles richtig gemacht, so wie Gott das Parken vorgesehen hat, also fahren Sie mit Ihrem rostigen Rentier woanders hin oder ich ramme Ihnen eine Delle ins Heck!«

Ja, sie würde dieses Jahr wohl auf Santas Liste der unartigen Kinder landen, aber dieses Risiko nahm sie gern in Kauf. Ihre Geduld für selbstsüchtige, parkplatzstehlende Menschen – die auch noch Socken in Sandalen trugen! – war leider vollkommen aufgebraucht. Dieser Morgen ordnete sich noch hinter einer Reifenpanne in der Wüste und einem toten Katzenbaby ein. In zwanzig Minuten hatte sie einen Termin, ganz abgesehen davon, dass schlimme Dinge passieren würden, wenn sie innerhalb der nächsten dreißig Sekunden keinen Donut in der Hand hielt.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Bad Santa süffisant grinsend und hob die Schultern. »Sie waren einfach etwas zu langsam, Miss.«

Und das von dem Mann, der schneller rollen als gehen würde! »Zu langsam«, fuhr sie ihn feindselig an, stieg aus und umrundete ihre Motorhaube. »Na, dann fangen Sie mal an zu rennen. Dann sehen wir ja, wer gleich zu langsam ist!«

Erschrocken – womöglich, weil Kate so tat, als würde sie eine Waffe aus ihrer Jackeninnentasche ziehen – stolperte der Mann einen Schritt nach hinten. Panik leuchtete in seinen Augen auf und hektisch blickte er sich um.

Kate trat bedrohlich auf ihn zu.

»Es ist doch nur ein Parkplatz!«, quietschte er und stolperte genau dann über die Bordsteinkante, als ein Streifenwagen um die Ecke bog. »Polizei!«, schrie der Mann sofort und wedelte mit den Armen herum. »Polizei! Hilfe!«

Kate verdrehte die Augen und ließ die Hand sinken, mit der sie nach ihrer imaginären Waffe gegriffen hatte. Möglicherweise war sie einen Schritt zu weit gegangen. Aber die Männer heutzutage waren einfach viel zu schreckhaft. Alle Männer … bis auf das Vorzeigeexemplar, das soeben aus dem Polizeiauto stieg. Dunkelbraune Haare, hellbraune Augen, achtzig Kilogramm Muskelmasse und zehn Kilogramm Testosteron, verpackt in einem einzigen Mann.

In ihrem Magen setzte ein Fallgefühl ein. So wie jedes verdammte Mal, wenn sie den düsteren Cop sah, der ihr den Schlaf und den letzten Nerv raubte.

Klasse. So viel dazu, dass der Morgen nicht mehr schlimmer werden könnte.

Sawyer Wright war Ex-Navy Seal und jeder Zentimeter seines Körpers, von dem viel zu ernsten, kantigen Gesicht bis hin zu den langen Beinen, zeugte von seiner Arbeit für Uncle Sam. Leider hatte er die nervige Angewohnheit, seinen Mund zu öffnen, sonst hätte Kate ihn schon längst auf ihren Kaminsims gestellt.

Sie presste die Lippen aufeinander und senkte den Blick. Normalerweise ging sie Sawyer so gut wie möglich aus dem Weg, aber in einer Kleinstadt wie Eden Bay hielten sich die Möglichkeiten eines Versteckspiels in sehr überschaubaren Grenzen. Vor allem, wenn man denselben Freundeskreis hatte. Und so sehr sie es genoss, Sawyer anzuschreien … Sie hasste es, dass es so verkrampft zwischen ihnen war. Dass sie sich in seiner Gegenwart nicht einfach normal benehmen konnte.

Tief durchatmend schloss sie die Augen. Es war egal. Es war, wie es war, und sie würde Sawyer niemals zeigen, was für eine Macht er über sie hatte.

Besagter Polizist schloss die Autotür und hob eine Augenbraue. »Gibt es ein Problem?«, fragte er mit seiner kühlen Cop-Stimme, die Kate zur Weißglut trieb. Sein Blick huschte über die beiden Autos zu dem rotgesichtigen Mann und blieb verdächtig lang auf Kate liegen.

Es war offensichtlich, wen er für das Problem hielt.

»Sie ist verrückt!«, rief der Mann und deutete mit dem Zeigefinger auf sie. »Sie wollte mich attackieren.«

Kate sah keinen Sinn darin, diesen Vorwurf zu verneinen. Es war die absolute Wahrheit.

»Los, verhaften Sie sie! Sie hat eine Waffe!«, schrie der Mann weiter.

Sawyer seufzte schwer. »Sie hat keine Waffe. Sie hat nur eine Menge Fantasie.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil ich sonst längst tot wäre«, erklärte er sachlich.

Damit lag er gar nicht so falsch. Immerhin wusste Kate, wie man schoss. Dank eines besorgten Bruders und der Stadt New York City.

»Er beschmutzt den Ruf des Weihnachtsmanns und hat mir den Parkplatz geklaut«, legte Kate bemüht ruhig die Fakten dar.

Sawyers andere Augenbraue folgte und forschend glitt sein dunkler Blick über ihr Gesicht. »Es geht um einen Parkplatz?«

»Es geht um sehr viel mehr als das! Es geht darum, dass ich im Recht liege … und um Donuts«, korrigierte Kate ihn aufgebracht.

»Ah«, machte Sawyer und blickte auf seine Armbanduhr. »Es ist noch nicht einmal neun Uhr.«

»Und? Was hat das mit irgendetwas zu tun?«, fragte Kate verwirrt.

»Nichts. Aber normalerweise lässt du dir morgens mehr Zeit damit, auszurasten.«

Ja, eigentlich hatte Kate es sich zur Regel gemacht, vor neun nicht herumzuschreien. Aber besondere Situationen erforderten besondere Maßnahmen.

»Warum verhaften Sie sie denn nicht endlich?«, forderte der Bärtige noch immer zornig. »Ist das nicht Ihr verdammter Job?«

Sawyer verengte die Augen und fixierte Stupid Santa. Sofort hob dieser die Hände und stolperte nach hinten.

»Ich gehe besser«, sagte er hastig.

Sawyer nickte. »Tun Sie das.«

»Er geht nirgendwohin, bevor er sein Auto nicht umgeparkt hat«, sagte Kate ungläubig. Sie wollte einen weiteren Schritt auf den parkplatzstehlenden Bastard zumachen, doch Sawyer blockierte sie mit seinem breiten Rücken.

»Gehen Sie«, sagte er bestimmt, während Kate versuchte, an seinen blöden Muskeln vorbeizusehen. Es war aussichtslos. Ihre Beine waren mindestens fünfundzwanzig Zentimeter zu kurz. Sie hätte Sawyer jetzt gerne geschlagen, aber wenn sie sich die Hand brach, würde das ihre ganze Tagesplanung durcheinanderbringen. Deswegen sank sie zurück auf die Fersen und verschränkte die Arme.

»Dein Job ist es, diese Stadt zu schützen. Nicht, mich wütend zu machen, Sawyer«, fuhr sie ihn an.

Er wandte sich zu ihr um und neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Abgesehen davon, dass es mich freut, dass du mich offensichtlich für Batman hältst – ich kann multitasken. Und es liegt mir einfach, dich aufzuregen. Ich muss mir nicht einmal viel Mühe geben.«

Einen Polizisten zu attackieren, ist eine Straftat, Kate.

»Schön«, sagte sie augenverdrehend und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Spiel du nur weiter Batman. Ich hole mir meinen Donut.«

Zu gehen, war die einzige, erwachsene Lösung. Sawyer und sie kommunizierten schlechter als ein schwerhöriger Papagei mit einem Delfin.

Doch als sie sich umdrehen wollte, legte sich eine warme, raue Hand um ihren Arm. Kleine elektrische Impulse sprangen von Sawyers Fingern auf ihre Haut und kletterten ihre Wirbelsäule hinunter. Sawyer schien etwas Ähnliches zu spüren, denn er ließ sie abrupt wieder los.

»Warte, Katie«, murmelte er.

Kates Nackenhaare stellten sich auf und ihr Magen zog sich zusammen. »Hör auf, mich so zu nennen«, flüsterte sie und wandte sich widerstrebend um.

Sawyer wusste genau, dass sie es hasste, wenn er ihr diesen Namen gab. Denn jedes Mal, wenn er von seinen Lippen rollte, fühlte sie sich in der Zeit zurückversetzt. Jedes Mal saß sie wieder im Baumhaus, Sawyers Hände warm um ihr Gesicht gelegt, seine Lippen hart auf …

»Du blockierst die Straße«, ignorierte er ihre Bitte.

»Nein, du blockierst die Straße«, korrigierte Kate ihn schnaubend und nickte zum Streifenwagen, hinter dem sich der Verkehr der Hauptstraße staute.

»Ja, der Unterschied ist nur, dass ich dank meiner extremen Coolness als Polizeichef die Straße komplett schließen dürfte. Du nicht. Also, setz dich ins Auto und fahr weiter.«

»Nicht ohne meinen Donut.«

»Ka…«

»Es geht ums Prinzip, Sawyer. Ich verlange Gerechtigkeit!«

Schnaubend schüttelte er den Kopf. »Du musst dich beruhigen, Katie. Wenn du diese Situation rational betrachtest, ergibt es absolut keinen Sinn, wie sehr du dich über diesen Parkplatz aufregst.«

»Aber Dinge sind nicht immer rational, Sawyer!«, erklärte sie genervt. »Wenn ich Santa jedes Barthaar einzeln rausreißen will, weil er meinen Parkplatz klaut, dann ist das eine emotionale Reaktion – aber eine gerechtfertigte! Natürlich verstehst du das nicht, denn Emotionen übersteigen deinen Horizont. Gefühle sind ja eine Verschwendung deiner Zeit.«

»Ich fühle Dinge, glaub mir.«

»Hunger zählt nicht.«

Sawyer verengte die dunklen Augen … und schien alle Antworten, die er suchte, in ihrem Gesicht zu finden.

»Wie geht es deiner Mutter, Kate?«, fragte er leise.

Unfreiwillig zog sich ihr Herz zusammen und sie ließ die Arme sinken. Offensichtlich war sie ein offenes Bilderbuch.

Denn ja, meistens nahm sie die Anrufe ihrer Mutter nicht an. Heute Morgen hatte sie den kolossalen Fehler begangen, ihre eigenen Regeln zu brechen.

Sie wandte den Blick ab. »Ihr geht es gut, aber offensichtlich nicht so gut wie meinem Vater. Das ist logischerweise ein riesiges Problem, für das ich die Verantwortung trage. Schließlich ziehe ich ihr Dad vor. Ich habe ihn letzten Monat einmal mehr angerufen als sie. Kurz bevor ich einen Öltanker im Atlantik versenkt und Eisbären mit meiner Harpune gejagt habe. Denn ich trage die Schuld an allem.«

Sawyer seufzte schwer. Einen Moment lang sah es aus, als strecke er die Hand nach ihr aus, doch auf halbem Wege überlegte er es sich anders.

Sie berührten sich nicht. Das war eine ihrer ungeschriebenen Regeln.

»Vergiss das Telefonat, Kate«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Es ist nicht deine Aufgabe, sie glücklich zu machen.«

»Dinge zu vergessen, ist nicht mein Stil«, sagte sie gezwungen ruhig. »Das ist eher deine Expertise, oder?«

Sawyer rieb sich mit der Hand über Augen und Nase. »Fahr weiter, okay?«

»Ich habe noch keinen Donut in der Hand.«

»Kate, auf der Wache liegen drei Strafzettel mit deinem Namen drauf.«

»Ja, damit du öfter an mich denkst.«

Er schnaubte. »Zwing mich einfach nicht, dir einen vierten auszustellen, okay?«

Prustend leckte sie sich über die trockenen Lippen. Als ob. »Was genau ist dein Problem, Sawyer?«

»Du meinst, abgesehen davon, dass du wie eine blinde Frau mit Gehörproblemen fährst?«

»Ich fahre wundervoll und kreativ. Ich bin eine Inspiration für den Straßenverkehr.«

Sie hätte schwören können, dass Sawyers Mundwinkel zuckten, doch sie war nicht sicher. Sie gab sich immer Mühe damit, ihn nicht allzu genau anzusehen.

»Wir beide wissen, dass du deinen Führerschein nur bekommen hast, weil du mit dem Fahrlehrer geflirtet hast.«

Das war korrekt, aber nicht relevant. »Es ist verdammt sexistisch von dir, zu sagen, dass Frauen schlecht Auto fahren!«

»Ich sage nicht, dass Frauen schlecht Auto fahren. Ich sage, dass du schlecht Auto fährst. Wenn du deinen Wagen nicht gleich von der Straße entfernst, muss ich dir einen Strafzettel geben.«

»Und was musst du tun, wenn ich dir den Mittelfinger zeige?«

»Dir Handschellen anlegen, um deine Hände unter Kontrolle zu bringen.«

Bei dem Wort Handschellen sprang augenblicklich ein Bild in Kates Kopf. Ein freundlicher Vorschlag ihres Gehirns, wie man die Metallringe noch sinnvoll einsetzen könnte.

Hitze sammelte sich in ihrem Unterleib und ihr Mund wurde trocken. Ihr Blick wanderte zu Sawyers Lippen. Nur für einen kurzen Moment. Doch lang genug, um den Polizisten zu einem wissenden Lächeln zu animieren.

Ruckartig machte Kate einen Schritt zurück. »Verhafte mich das nächste Mal einfach, dann kann ich mir ein allzu langes Gespräch mit dir ersparen«, murmelte sie und stieg in ihr Auto. Bevor sie losfuhr, zog sie einen Zettel aus ihrer Mittelkonsole, auf dem zwei Namen prangten. Widerstrebend klaubte sie einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche und machte einen Strich unter Sawyers. Diesen Monat führte er mit sieben zu sechs. Doch der September hatte gerade erst angefangen und wenn sie etwas in den letzten fünfzehn Jahren gelernt hatte, dann eines: Sie würde Sawyer nie wieder leichtfertig gewinnen lassen.

*

Es gab zwei Dinge in Sawyer Wrights Leben, die ihn ernsthaft ins Schwitzen brachten. Dunkle, enge Räume – und Kate Sullivan.

Er legte zehn Kilometer zurück, ohne auch nur einen Tropfen Wasser zu verlieren. Er war erst gestern bei einem seiner Freelance-Einsätze, die er für die Drogenverfolgungsbehörde DEA erledigte, mit einer Waffe bedroht worden und hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Er war dreimal nach Afghanistan ausgerückt und war öfter aus einem Flugzeug gesprungen als einkaufen gewesen.

Aber fünf Minuten mit Kate und schon wurden seine Handflächen feucht. Schon wurde sein Mund trocken, sein Nacken steif und sein Herz schwer.

Genervt rieb er sich über das stoppelige Kinn und sah den zerschrammten Rücklichtern von Kates Schrotthaufen hinterher.

Sawyer belog sich nicht selbst. Das war nicht sein Stil. Er wusste genau, warum Kate eine solche Reaktion bei ihm hervorrief: Er wollte sie. Immer.

Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.

Aber ebenso wusste er, dass er diesem Drang nicht leichtfertig nachgeben würde. Denn Kate und er … Sie waren zu explosiv. Sie waren mehr als nur eine schlechte Idee. Sie waren die Umweltkatastrophe, die die Energievorräte der Welt erschöpfen würde. Das Feuerwerk, das nicht in den Himmel, sondern auf eine Tankstelle zuschoss. Das war ihm mit achtzehn klar gewesen und auch fünfzehn Jahre später hatte sich nichts daran geändert.

Allerdings half es ihm nicht im Geringsten, dass Kate ausschließlich in engen Röcken herumlief und unnormal oft ihren Rücken dehnte, um ihre Brüste dabei nach vorne zu strecken. Ihrer Meinung nach verliehen ihr die zugeknöpften Blusen und Bleistiftröcke ein professionelles Aussehen. Aber Sawyer wusste es besser. Sie zog sich allein deswegen so an, um ihn wahnsinnig zu machen.

Ein Hupen riss ihn aus seiner Trance. Er wandte den Kopf und sah in die fragenden Gesichter von vier Autofahrern, die ungeduldig hinter dem Streifenwagen warteten.

Seufzend stieg er ein und fuhr die Hauptstraße hinauf, bis er nach rechts in die Seitenstraße bog, in der sich das Polizeipräsidium neben die Feuerwehrwache und das Krankenhaus reihte. Er parkte, grüßte Rick und Steve, zwei der Feuerwehrmänner, die gerade in der gegenüberliegenden Lagerhalle verschwanden, und stieß die Tür zum Präsidium auf. Er hatte Arbeit zu erledigen und keine Zeit dafür, über Kates Röcke zu fantasieren.

»Hey«, grüßte er Bart Simmons, seinen 75-jährigen Rezeptionisten, der sich mit seiner Arbeit bei der Polizei etwas zu seiner Rente dazuverdiente.

»Hallo, Chef«, meinte Bart grinsend und klickte hastig das Solitärspiel von seinem Desktop weg.

»Ist irgendetwas Wichtiges passiert?«, wollte Sawyer wissen.

»Nein, noch nichts los heute Morgen. Genug Zeit, um ein wenig Papierkram zu machen.«

Mensch, das war ja klasse. Den Luftsprung würde er dann in seiner Mittagspause machen.

Er stieß die Tür zu seinem Büro auf und wollte sich in den Sessel hinter dem Schreibtisch sinken lassen. Doch da saß schon jemand.

Mit verengten Augen betrachtete er sein grinsendes Gegenüber, bevor er über die Schulter fragte: »Bart, hast du einen hässlichen Mann in mein Büro gelassen?«

»Ja, habe ich.«

»Und das hast du mir nicht gesagt, weil …?«

Bart schien verwirrt. »Na, du hast gefragt, ob irgendetwas Wichtiges passiert ist. Nathan hielt ich nicht für wichtig. Er ist ständig hier.«

Sawyer seufzte schwer und machte dann eine fahrige Handbewegung in die Richtung seines besten Freundes, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. »Du arbeitest hundert Meter weiter, Nate«, stellte er fest. »Ich weiß ja, dass du dir seit ein paar Monaten das Gehirn rausvögeln lässt, aber dass es schon so schlimm geworden ist, habe ich nicht geahnt.«

Nathan lachte leise und verschränkte die Arme im Nacken. »Erst nennst du mich hässlich, dann dumm … Willst du gleich noch an meinen Zöpfen ziehen oder mir lieber sofort deine Liebe gestehen?«

Gott, Nathan war viel zu fröhlich, seitdem er seine neue Freundin Maya hatte. Das gefiel Sawyer nicht. Klar, er wollte, dass Nathan glücklich war und all den anderen Scheiß – aber doch nicht in seinem Büro!

»Willst du jetzt irgendetwas Bestimmtes oder bist du nur hier, um meinen Tag zu versauen?«, fragte Sawyer betont freundlich.

Amüsiert hob Nathan einen Mundwinkel. »Meine Güte, wer hat dir denn in den Kaffee gespuckt?«

Eine kleine, kurvige Blondine. »Ich muss arbeiten, Nate. Ich weiß, dass ihr Feuerwehrmänner nur auf der faulen Haut liegt und auf euren Glanzmoment wartet, aber ich habe einen richtigen Job.«

»Du hast gestern der alten Mrs. Lesiki über die Straße geholfen und die Terrassenglühbirne meiner Mutter ausgewechselt, also bist du derjenige mit dem richtigen Job?«

»Ja. Oder hast du gestern Nacht auch fünfzig Kilogramm Heroin sichergestellt?«

Nathan schnaubte. »So ein kleiner Angeber. Ist auch egal. Deswegen bin ich nicht hier.« Er faltete die Hände auf dem Schreibtisch. »Ava hat mich darauf angesetzt, dafür zu sorgen, dass du dir dieses Jahr keine Ausrede einfallen lässt, nicht auf unseren Zeltausflug mitzukommen.«

Sawyer stöhnte. Jedes Jahr im September, zum Anfang des Indian Summers, fuhren seine Freunde für ein Wochenende zum See. Lagerfeuer, wandern und zelten standen auf dem Programm. Sawyer wohnte schon seit zwei Jahren wieder in Eden Bay, war der jährlichen Tortur aber bisher entkommen.

Er hatte nichts dagegen, im Zelt zu schlafen. Herrgott, er konnte selbst mit einem Stein als Kissen einnicken. Das Problem war, dass Ava beschlossen hatte, jährlich auszulosen, wer die Nacht mit wem unter einem Plastikdach verbringen würde, damit es keinen Streit gab. Das damit einhergehende Risiko war einfach viel zu groß. Zwanzig Zentimeter neben einer halbnackten Kate in einem Zelt zu liegen, stand wirklich nicht weit oben auf seiner To-do-Liste. Sawyer war kontrolliert – aber kein Heiliger.

»Ich bin beschäftigt, Nate«, sagte er deswegen gelassen.

»Den ganzen September über?«

Jap, jetzt schon. Und wenn er jedes Wochenende Papierkram erledigen musste. »Ich fürchte.«

»Ich glaub dir kein Wort.«

»Es ist ja auch gelogen. Aber ich komme trotzdem nicht mit. Ich habe in Afghanistan genug auf dem Boden geschlafen.«

Nathan verdrehte die Augen. »Ernsthaft? Du spielst deine patriotische Soldatenkarte aus?«

Ja. Funktionierte jedes Mal. »So sieht es aus.«

»Ava wird damit nicht zufrieden sein«, warnte ihn Nathan.

Mit Avas Zorn konnte er leben. Mit Kate, die womöglich im Schlaf stöhnte, nicht.

»Du willst wirklich nicht freiwillig mitkommen?«, wiederholte Nathan.

»Nein.«

Sein Freund verzog das Gesicht und sah ihn entschuldigend an. »Dann werde ich dich leider dazu zwingen müssen.«

Sawyer hätte womöglich einen Lachanfall bekommen, aber Gefühlsausbrüche lagen nicht in seiner Natur. Deswegen hob er nur amüsiert die Augenbrauen. »Und wie willst du das machen?«

»Indem ich dir drohe«, erklärte Nathan sachlich.

Dabei wünschte Sawyer ihm viel Glück. Er war nicht sonderlich leicht einzuschüchtern. »Dann droh mir mal«, sagte er schnaubend.

»Okay. Wenn du nicht mitkommst, werde ich Kate verraten, dass du ihr abends mit dem Auto nach Hause folgst, um sicherzugehen, dass sie gut ankommt. Oder ich erzähle ihr, dass du das Haus deines Onkels restaurierst, um es zu verkaufen, und nicht vorhast, sie als deine Maklerin zu engagieren.«

Es war, als hätte Nathan ihm einen Eimer Eiswasser in die Hose gekippt.

Mit leicht geöffneten Lippen starrte er ihn an.

»Überlegst du gerade, auf welche Art du mich am besten umbringen kannst?«, fragte Nathan interessiert und stand auf.

Ja, und ihm waren bereits fünf effektive Methoden eingefallen. Man würde seine Leiche niemals finden.

Mitleidig klopfte Nathan ihm auf die Schulter. »Du bist Soldat, Sawyer. Du solltest es besser wissen, als deine Achillesferse so offen zur Schau zu stellen. Und meinst du nicht, dass es langsam an der Zeit ist, euer Kriegsbeil zu begraben? Es wird allmählich albern, euch dabei zuzusehen, wie ihr auf imaginären Scherben umeinander herumtanzt.«

Was für eine bescheuerte Frage. Natürlich wurde es Zeit! Aber Kate war so verdammt verschlossen. Es gab nur eine einzige Emotion, die sie bereit war, zu zeigen: Wut. Das war besser als nichts, oder?

Sawyer wusste, dass er im schweigsamen Glashaus saß und mit sehr lauten Steinen warf, aber … es schien unmöglich für Kate und ihn, an einen Punkt der Normalität zu gelangen. Er konnte nur daran denken, ihr jedes sarkastische Wort von den Lippen zu küssen, und sie war noch immer wütend auf ihn.

Weil er ihr eine Erklärung schuldete. Und einen Abschied.

»Komm schon, Sawyer, stell dich nicht so an. Vor ein paar Monaten hast du mir einen Vortrag darüber gehalten, dass ich meinen Scheiß zusammenkriegen soll. Jetzt gebe ich dir deinen Rat zurück: Was immer zwischen Kate und dir vorgefallen ist, bereinige es. Und komm mit zum Campen. Es ist das erste Mal, dass Maya dabei ist.«

Sawyer sah ihn düster an. »Seit du eine Freundin hast, bist du verdammt leicht zu beeinflussen.«

Nathan grinste. »Ich weiß. Aber ich bekomme eine Menge Sex. Und danach macht Maya mir ein Sandwich. Ich komme klar.«

Sawyer rieb sich mit Zeigefinger und Daumen über die Augen. »Woher wusstest du bloß, dass ich das unbedingt wissen wollte?«

»Du bist doch nur eifersüchtig, weil ich gutes Essen und Sex bekomme und du nichts von beidem.«

Ja, wenn er ehrlich war, dann war er tatsächlich etwas neidisch. Er könnte ein paar Nächte heißen Sex gebrauchen.

Am besten mit Kate.

Sawyer stöhnte innerlich.

Er sollte sich eine Ablenkung suchen. Heute Abend, im Sullivan‘s. Da liefen immer genug Frauen rum. Es würde nur schwer werden, eine zu finden, die noch nicht mit Jared – der Barkeeper und sein anderer bester Freund – geschlafen hatte. Und wenn Kate da war, würde er ohnehin keine anrühren. Denn wenn man Cupcakes vor der Nase hatte, warum sollte man dann nach einem Apfel greifen?

»Ich überleg mir das mit dem Camping«, meinte Sawyer schließlich vage. Nathan würde ja sonst doch nicht gehen.

»Du kommst mit«, beharrte sein Freund und richtete den Zeigefinger auf ihn. »Lass Violet für dich einspringen.«

Violet war seine 55-jährige Deputy, die alle Schichten übernahm, an denen Sawyer nicht arbeitete. Um die 5411, mit der neu zugezogenen Maya nun 5412, Einwohner Eden Bays unter Kontrolle zu halten, brauchte es lediglich drei Mitarbeiter. Es half außerdem, dass die meisten ein wenig Angst vor Sawyer hatten. Die jüngeren Bewohner, weil sie wussten, dass er bei den Navy Seals als Sniper gearbeitet hatte. Die älteren, weil sie ihn noch von vor fünfzehn Jahren kannten.

Sawyer war mit vierzehn nach Eden Bay gezogen. Kurz nachdem seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren und das Sozialamt beschlossen hatte, ihn bei seinem Onkel unterzubringen.

Die Stadt hatte ihn nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen. Was womöglich daran lag, dass er zusammen mit seinen neu gewonnenen besten Freunden Jared und Nathan am dritten Tag nach seinem Umzug die Kuhherde seines Onkels Gerry freigelassen und die Hauptstraße hinuntergetrieben hatte. Oder mit sechzehn mit Gerrys Schrotgewehr den städtischen Stromverteiler erschossen hatte, sodass die Stadt drei Tage lang im Dunkeln hatte leben müssen. Dann wäre da noch das illegale Autorennen, das er mit achtzehn in die Wege geleitet hatte, bei dem ein kleiner Junge beinahe ums Leben gekommen war.

Ja, Sawyer hatte sich in seiner Jugend nicht sonderlich mit Ruhm bekleckert. Wenn ihm damals jemand gesagt hätte, dass er in fünfzehn Jahren wieder hier wohnen und Polizeichef sein würde, hätte er – so wie die gesamte Stadt – laut gelacht. Wenn er ehrlich war, hatte er Eden Bay den Großteil seines Lebens aus tiefstem Herzen gehasst. Die Stadt war zu klein, zu leise gewesen. Sie war ihm aufgezwungen worden. Ihm war immer klar gewesen, dass er sie irgendwann weit hinter sich lassen würde.

Trotzdem war er jetzt wieder hier. Bei der einzigen Familie, die er noch hatte. Seinen Freunden.

Als er aus der Army ausgetreten war, hatte er einen Plan verfolgt. Einen Plan, den er noch nicht hatte umsetzen können. Aber der Zeitpunkt würde schon noch kommen.

Sawyer blinzelte und riss sich zurück in die Realität. »Ich überlege es mir«, wiederholte er schroff und nickte zur Tür. »Und jetzt lass mich in Ruhe und rette ein Huhn oder so.«

Nathan verdrehte die Augen. »Einmal. Einmal habe ich ein Huhn gerettet und die Leute reden immer noch davon!«

»Wenn es um ihre Eier geht, verstehen die Menschen keinen Spaß. Schönes Gespräch. Raus.«

Schnaubend klopfte Nathan ihm ein letztes Mal auf die Schulter, bevor er verschwand. Sawyer schloss die Tür, lief um den Schreibtisch herum und glitt in seinen Ledersessel.

Seufzend ging er den Stapel Post durch, der auf seinem Tisch lag. Da er ohnehin mehr Zeit auf der Wache als zu Hause verbrachte, ließ er sich seine Privatpost auch hierherschicken. Der erste Umschlag war ein Beschwerdebrief von Mrs. Lesiki. Das laute Rauschen des Meeres würde sie beim Schlafen stören, er solle doch bitte etwas gegen diese Ruhestörung unternehmen. Der Zweite war ein Bewerbungsschreiben von Benjamin Kavanagh, der gerne bei der Polizei anfangen würde. Es war bereits der dritte Brief, den Sawyer von ihm erhielt, aber er konnte nicht viel für den Sohn des Feuerwehrchiefs tun. Eden Bay war klein, sie brauchten keinen weiteren Polizisten, wie er dem Jungspund schon mehrfach verklickert hatte. Abgesehen davon, dass Benjamin nicht darum herumkommen würde, die Polizeischule zu besuchen.

Kopfschüttelnd legte er die beiden Papiere beiseite, bevor er den letzten Brief betrachtete. Er sah nur kurz auf das bläulich schimmernde Siegel in der oberen linken Ecke und warf ihn dann in den Mülleimer unter seinem Schreibtisch. Sie sollten endlich aufhören, ihn zu belästigen.

Gähnend streckte er die Arme über den Kopf und ließ seine Schultern kreisen, während er an den Campingtrip dachte.

Wahrscheinlich würde er mitgehen. Und sei es nur, um den Respekt vor sich selbst nicht zu verlieren. Er würde mit Kate reden. Sie waren erwachsen. Die Sache war fünfzehn Jahre her. Es musste doch möglich sein, wie normale Menschen miteinander umzugehen.

Und wenn er gerade dabei war, würde er auch den Weltfrieden herbeiführen und die Lösung für die Energiekrise finden.

Anscheinend lag ein arbeitsintensiver Tag vor ihm.

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