Ein bisschen Liebe, bitte! – Leseprobe

Kapitel 1

Weisheiten deiner Granny

Sei immer freundlich. Vor allem zu deinen Verwandten. Du weißt nie, wann du mal eine neue Niere brauchst.

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»Sind Sie sicher, dass es kein Hautkrebs ist?«

Der alte Mann verzog grimmig das Gesicht und starrte auf das schwarze Überbleibsel auf Ava Chestnuts behandschuhtem Finger. Das grelle Neonlicht erleuchtete seine Falten und ließ sein Gesicht wie ein frisches Autoprofil aussehen. Das laut festzustellen, gehörte jedoch nicht zu Avas ärztlichen Pflichten, deshalb schluckte sie den Kommentar hinunter. Stattdessen sagte sie lächelnd: »Sehr sicher. Hautkrebs lässt sich normalerweise nicht mit dem Fingernagel abkratzen, Mr. Bloomberg. Und Hautkrebs schmeckt auch nicht nach Schokolade – was dieser hier sehr wahrscheinlich tut.«

»Aha. Aha …«, murmelte Mr. Bloomberg und kratzte sich am Kopf. Er war so klein, dass seine Beine von der Behandlungsliege baumelten, und Ava fragte sich automatisch, wie er es überhaupt dort hinaufgeschafft hatte. Doch bevor sie ihre Neugier stillen konnte, sprach ihr Patient weiter: »Na ja, wenn ich schon einmal hier bin … könnten Sie sich noch einmal meinen Kopf ansehen?« Er beugte den Schädel vor und zog sein schütteres Haar auseinander. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ein Tumor ist, Doktor.«

Ava verkniff sich ein Lächeln, tat ihm aber den Gefallen und tastete seinen Kopf ab. »Es ist eine Beule, Mr. Bloomberg«, stellte sie nach zwei Sekunden das Unvermeidliche fest. »Haben Sie sich innerhalb der letzten Tage womöglich irgendwo gestoßen?«

»Mhm.« Er hob den Kopf und zwirbelte seinen beeindruckenden Schnauzer um den Finger. »Meine Enkeltochter hat mit ihrem Bagger meine Haare umgegraben. Etwas sehr enthusiastisch. Meinen Sie, das könnte die Ursache sein?«

Ava nickte. »Durchaus. Es ist also nichts, um das Sie sich sorgen müssten.«

Erleichtert sackte er in sich zusammen. »Okay. Na gut.« Leichtfüßig wie eine Holzfigur mit Gelenkschmerzen hüpfte er von der Liege und zog sein Jackett vom Stuhl gegenüber.

Es war Mitte Mai und die Klimaanlage des Krankenhauses lief auf Hochtouren, doch Mr. Bloomberg verzichtete nie auf die blaue Anzugjacke. Er war ein ansehnlicher Mann und Männer, die ohne Jackett herumliefen, hatten seiner Meinung nach die Kontrolle über ihr Leben verloren. So zumindest hatte er es Ava das letzte Mal erklärt. Normalerweise kam er mit seinen Wehwehchen einmal wöchentlich in ihre Praxis, aber da Ava diesen Sonntag in der Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses aushalf, hatte er sie hier aufgesucht. Ava war ziemlich sicher, dass sie sogar in seinem Terminkalender stand.

Mr. Bloomberg war frisch verwitwet und sehr oft sehr einsam. Allein deswegen brachte sie es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass er eigentlich ihre Zeit verschwendete, die sie wirklich für … nun, alles andere in ihrem Leben gebrauchen könnte. Doch solange sie ihn damit glücklich machte, einmal die Woche seine unnötigen Sorgen zu beruhigen, würde sie weiterhin liebend gern ihre Pausen für ihn verkürzen.

»Tut mir leid, dass es schon wieder ein falscher Alarm war«, meinte er und zog schuldbewusst den Kopf ein.

Sie lächelte breit und tätschelte seinen Arm. »Gar kein Problem, Mr. Bloomberg. Vorsorge ist besser als Nachsorge.«

Er nickte zustimmend. »Das hat meine Frau auch immer gesagt! Ich weiß trotzdem nicht, wie Sie das immer machen, Dr. Chestnut. Sich mit solch griesgrämigen Hypochondern wie mir herumzuschlagen und trotzdem Ihr Lächeln zu bewahren.«

»Oh, ich nehme eine Menge Drogen«, sagte sie leichthin, legte seine Krankenakte weg und hob die Schultern. »Das hilft.«

Mr. Bloomberg kicherte sehr unmännlich. Gott sei Dank hatte er sein Jackett an. »Ihre Großmutter hat recht. Sie sind wirklich sehr ulkig – und so geduldig!«

Ava stöhnte leise. Ja, das war sie. Der ulkigste und geduldigste Mensch aus ganz Eden Bay, wenn man dem Blog ihrer Großmutter Glauben schenken konnte. Und bis auf die Beiträge über das nicht existente brutale Banden- und Mafialeben der kleinen Hafenstadt, waren die Berichte auf Listen2YoGranny.com erschreckend ehrlich und akkurat.

Avas Meinung nach war Geduld trotzdem nichts, auf das sie sonderlich stolz sein konnte. Es gehörte schlichtweg zu ihrem Job als Ärztin.

Sie verbrachte die meisten Tage damit, Gummibärchen aus Nasenlöchern zu entfernen, Schnittwunden zu nähen und sich das Leid der älteren Gemeinschaft von Eden Bay anzuhören. Wenn sie da so leicht die Geduld verlieren würde, säße sie bereits wegen mehrfachen Mordes im Knast.

Außerdem führte Ungeduld ihrer Meinung nach zu härteren Emotionen wie Unzufriedenheit, Groll und Missgunst. Alles Gefühle, die ihren optimistischen Charakter torpedieren könnten, also gab sie ihnen gar nicht erst die Chance, sich in ihrem Kopf festzusetzen.

»Sagen Sie, haben Sie eigentlich wirklich mit elf Jahren nur gelbe Unterhosen getragen, weil Sie dachten, dass jede andere Farbe zu deprimierend sei?«, fragte er interessiert.

Ava hätte gern den Kopf gegen die Wand geschlagen. Dieser blöde Blog! Seit Wochen plauderte ihre Großmutter fröhlich Avas größte, peinlichste Geheimnisse aus und rechtfertigte das mit: »Wieso? Ist doch lustig.«

Adam hätte ihr nie eine Website einrichten dürfen. Doch der blöde Internet-Millionär hatte zu große Angst vor Granny Chestnut, um ihr eine Bitte abzuschlagen. Abgesehen davon hatte er die Idee, dass eine achtzigjährige Frau ihre exzentrischen Gedanken im Internet breitschlug, einfach viel zu lustig gefunden. Ava war sich ziemlich sicher, dass er den Blog längst abonniert hatte. So wie alle ihre verräterischen Freunde!

»Gelb war meine Lieblingsfarbe«, sagte sie knapp. »Haben Sie eigentlich schon überlegt, ob Sie am Freitag zum Karaoke im Seniorenzentrum kommen? Es könnte Ihnen Spaß machen, ein paar neue Leute kennenzulernen.«

Mr. Bloomberg verzog das Gesicht, als hätte Ava vorgeschlagen, er solle seine Hand in einen Pürierstab halten. »Ich weiß nicht. Dort sind alle so … alt

»Ja, so wie Sie«, erinnerte Ava ihn freundlich.

»Hey, ich habe meine richtigen Hüftgelenke noch!«

»Aber Ihre Zähne nicht mehr, Mr. Bloomberg.«

Er schnaubte. »Korinthenkackerei. Niemand hat noch seine richtigen Zähne.«

Ava lächelte breit und präsentierte ihre eigenen. »Natürlich nicht. Aber ich glaube, Sie könnten Spaß haben.«

»Ich habe viel Spaß! Aber überlege es mir trotzdem, danke für alles«, sagte er grummelig, tätschelte ihre Schulter und verschwand den Gang hinunter.

Seufzend sah Ava ihm nach. Warum weigerten sich nur so viele Menschen, sich helfen zu lassen? Es war nicht schlimm, zuzugeben, einsam zu sein. Herrgott, sogar sie war manchmal einsam, obwohl sie kaum eine Minute am Tag allein war. Da war doch nichts dabei. Aber wenn man die Möglichkeit hatte, diesem Gefühl für ein paar Stunden am Tag zu entgehen, sollte man sie ergreifen! Deswegen hoffte sie sehr, dass Mr. Bloomberg über seinen Schatten springen und am Freitag kommen würde.

Egal. Das lag nicht mehr in ihrer Hand. Das Gute war, dass er ihr letzter Patient gewesen war und sie nun gehen …

»Dr. Chestnut?«

Überrascht sah sie auf. Ein dunkelhaariger Krankenpfleger mit Grübchen in den Wangen hatte sich an sie angeschlichen. Sein Name war Gordon, wenn sie sich recht entsann. Er war immer sehr freundlich und witzig. Warum hatte sie ihn eigentlich noch nicht in ihre Kartei aufgenommen? Er würde vielleicht gut zu Hope, ihrer Sprechstundenhilfe, passen …

»Ja? Gibt es noch irgendetwas? Eigentlich wollte ich gerade zusammenpacken.«

»Ja, deswegen …« Entschuldigend hob er die Schultern. »Könnten Sie sich wohl noch kurz den Fuß des Brooks-Mädchens ansehen? Es ist umgeknickt. Dauert auch nicht lange.«

Ava seufzte innerlich. Es war spät. Sie war seit sechzehn Stunden auf den Beinen. Sie wollte ins Sullivan’s, etwas essen und dann bei einem schnulzigen Liebesfilm einschlafen, der ihre unrealistischen Erwartungen an den perfekten Mann unterstützte. Doch wenn sie das Brooks-Mädchen jetzt nicht behandelte, musste es wahrscheinlich noch Stunden auf den nächsten Arzt warten. »Natürlich«, murmelte sie und lächelte. »Wenn es nur ein verstauchter Fuß ist.«

Eine halbe Stunde später hatte sie den Fuß geröntgt, als gebrochen diagnostiziert, einen Gips angelegt und die Familie nach Hause geschickt.

Ava war unglaublich erschöpft, aber lächelte noch immer. Sie würde es nie leid werden, Menschen zu helfen. Es war wie ihre ganz persönliche Droge. Doch wenn sie in der nächsten Stunde nichts zu essen bekam, würde sie womöglich umkippen und sich einen Schädelbruch zuziehen, also …

Hastig öffnete sie die Tür zum Behandlungszimmer, um ihre Handtasche zu bergen – und blieb überrascht stehen. Es war nicht mehr leer. Ein schlaksiges Mädchen mit schokobraunen Haaren stand neben der Liege. Es konnte kaum fünfzehn sein und zog gerade die Leber und den Magen von Chucky, der Anatomiepuppe, aus seinem offenen Körper. Mäßig interessiert drehte es die Organe in den Händen, den breiten Mund zu einer gelangweilten Schnute gezogen, bevor es sie auf die Liege legte und das Herz mit nur einem Griff herausoperierte.

»Hey«, sagte Ava. »Kann ich dir helfen?«

Erschrocken fuhr das Mädchen zu ihr herum. »Hey«, gab es zurück und musterte skeptisch Avas Kittel. »Ja. Können Sie mir ein paar Freunde und ein neues Sozialleben verschreiben? Und wenn wir schon dabei sind: Wie bringt man seinen Vater um, ohne dass die Polizei misstrauisch wird?«

Ava lachte. Charmantes Mädchen. »Ich fürchte, im hippokratischen Eid stand nichts darüber, dass ich Jugendliche bei ihren Mordplänen unterstützen muss, aber hey – ich kann gern deine neue Freundin werden.«

Das Mädchen schnaubte und zog eine Grimasse. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber … Sie sind alt

Autsch. Ja, sie war über dreißig, aber … alt? War die Kleine nicht zufällig Mr. Bloomberg über den Weg gelaufen? »Ich bin erfahren«, korrigierte Ava sie mit erhobenem Finger, bevor sie den Raum durchquerte und die Hand ausstreckte. »Ich heiße übrigens Ava. Und du?«

»Riley«, sagte das Mädchen widerstrebend und ergriff die Hand. »Und sorry, ich wollte Sie nicht beleidigen. Sie sind bestimmt sehr nett und voll jung geblieben und alles, aber … ich sollte mich erst mal mit Leuten anfreunden, die keine Falten um die Augen haben. Wenn ich dann verzweifelt genug bin, komme ich noch einmal auf Ihren Vorschlag zurück.«

Das klang nach einem vernünftigen Plan. »Vielen Dank, es wäre mir eine Ehre«, sagte Ava und legte die Hand auf die Brust. »Und jetzt, da wir die Höflichkeiten hinter uns haben … Was genau tust du hier?«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, mein Dad musste sich irgendwo melden, weil er bald hier arbeitet. Ich hab mich gelangweilt, also hab ich nach was Interessantem gesucht.« Sie hob das Herz in ihrer Hand hoch, wie um zu bedeuten, dass sie auch tatsächlich etwas gefunden hatte.

»Ah, verstehe«, sagte Ava. »Und deswegen willst du ihn gleich umbringen?«

Riley schnaubte. »Nein, natürlich nicht. Ich will ihn umbringen, weil er unbedingt einen neuen Job annehmen und mit mir umziehen musste, obwohl wir ein fantastisches Leben in Boston hatten! Ich will ihn umbringen, weil ihr nicht einmal einen simplen Pizzalieferservice habt! Ich meine … hallo? Was ist los mit euch? Was für ein beschissenes Kaff ist das überhaupt hier?«

»Eines mit sehr schlechtem Internet, begrenzter kulinarischer Auswahl und zu vielen alten Menschen«, gab Ava zu. »Aber wir haben eine tolle Lebenseinstellung, einen romantischen Leuchtturm und das wilde Meer! Nicht das ruhige, langweilige wie in Boston.«

Riley legte den Kopf schief und hob mitleidig die Augenbrauen. »Du sagst das mit so viel Enthusiasmus, dass du nicht einmal merkst, wie traurig das klingt. Das ist …«

»Riley? Wo bist du?«, unterbrach sie ein Ruf vom Flur, der ihr das schlechte Gewissen merkbar auf das Gesicht trieb.

Sie seufzte schwer und kratzte sich am Kopf. »Das könnte hässlich werden«, sagte sie im entschuldigenden Tonfall, bevor sie lauter hinzufügte: »Hier, Dad! Im Behandlungsraum. Ich lerne etwas über die menschliche Anatomie.«

Ein Schnauben ertönte und im nächsten Moment stieß jemand die Tür hinter ihnen auf.

»Unfassbar«, murmelte eine tiefe, angespannte Stimme.

»Hey, Dad«, erwiderte Riley fröhlich und streckte einladend den Arm mit dem Plastikgegenstand aus. »Lust, mit einem Herzen zu spielen?«

Ava wandte sich um … und öffnete überrascht den Mund.

Der Mann, der ihr gegenüberstand, sah nicht aus wie ein Vater. Eher wie ein Typ, der Werbung für Bartöl machte. Oder ein Holzfäller, der seine Axt auch für Menschen benutzte, die ihm zu sehr auf die Nerven gingen.

Er war ein paar Zentimeter größer als sie, hatte dunkelblonde Haare, den dazu passenden, kurz gehaltenen Bart, und Augen, die sie gern als grau wie das Meer bei einem stürmischen Herbstwind beschrieben hätte – doch ihre beste Freundin Harper hatte ihr verboten, solche Formulierungen im Alltag zu gebrauchen. Sie sei ein Mensch, kein Liebesroboter. Er trug Jeans, ein lose an ihm hinabfallendes Karohemd und einen genervten Gesichtsausdruck.

Das war ernsthaft Rileys Vater? Er sah so … unglaublich jung aus. Höchstens fünfunddreißig. Wie alt war er gewesen, als er sie bekommen hatte? Achtzehn?

»Neunzehn.«

Ava zuckte zusammen und blinzelte den Fremden an. »Was?«

»Ich war neunzehn, als ich sie bekommen habe. Diese Frage haben Sie mir doch gerade mit Hilfe Ihres dezenten Starrens gestellt, oder nicht?«

Perplex öffnete sie den Mund. »Ich …«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, meinte er und winkte ab. »Sie reihen sich lediglich in die riesige Schlange unhöflicher Leute ein, die ich über die Jahre getroffen habe.«

Unhöflich? Sie, Ava Chestnut, unhöflich? Hatte er nicht den Blog ihrer Großmutter gelesen?

Sie wollte ihm schon widersprechen, doch der zerzaust aussehende Neuankömmling achtete gar nicht mehr auf sie.

»Ich hab dir gesagt, dass du auf mich warten sollst, Riley.«

Seine Tochter verdrehte die Augen. »Ich weiß, Dad, aber …«

»Nein.«

»Es war langweilig!«, sagte sie laut und riss die Augen auf. »Es hat nach Desinfektionsmitteln und alten Leuten gerochen und mein Handyakku ist alle … Was hätte ich denn tun sollen, außer herumzulaufen und mich umzusehen?«

Ihr Vater hob eine Augenbraue.

»Guck mich nicht so an, Dad!«, meinte sie vorwurfsvoll. »Ich habe mich zweihundert Meter weit bewegt. Ich bin nicht losgerannt und habe das Krankenhaus angezündet.«

Die zweite Augenbraue folgte.

Riley stöhnte frustriert auf und legte den Kopf in den Nacken. »Das alles ist deine Schuld«, stellte sie dann fest. »Würdest du mir einfach ein neues Handy kaufen, dessen Akku nicht alle drei Stunden leer ist, säße ich jetzt immer noch brav auf dem Stuhl da hinten. Du brauchst mir also gar keine Rede darüber zu halten, dass ich alt genug bin, um die richtigen Entscheidungen zu treffen, und dass es respektlos wäre, einer einfachen Bitte nicht nachzukommen.«

Ihr Vater verengte die Augen.

»Ich weiß, dass wir die Diskussion schon hatten!«, beschwerte sie sich sofort. »Aber … die anderen werden mich auslachen, wenn ich mit einem Sony Ericsson in der Schule auftauche! Alter, Dad, das ist sozialer Suizid! Ich brauche ein iPhone, okay? Es ist schrecklich genug, neue Leute kennenlernen zu müssen, aber mit einem Handy aus der Steinzeit? Willst du, dass alle mich hassen und als Freak beschimpfen? Willst du das?«

Verwirrt sah Ava zwischen den beiden hin und her. Sie schienen eine ganze Unterhaltung zu führen … ohne dass ihr Vater etwas sagte. Diese Art der Kommunikation war ihr völlig fremd. Sie war großer Fan vom gesprochenen Wort. Je mehr, desto besser.

»Tut mir leid. Was hast du gesagt?«, fragte Mr. Holzfäller mit gerunzelter Stirn. »Ich habe dich nicht verstanden, ich spreche kein Dramatisch

Riley gab einen Ton der Frustration von sich und schüttelte den Kopf. »Gott, ich hasse mein Leben! Wirklich, Dad! Ein neues Smartphone ist nicht zu viel verlangt.«

»Wir haben das schon tausendmal durchgesprochen, Riley«, sagte ihr Vater geduldig. »Wenn du ein neues Handy haben willst, kaufe es dir von deinem eigenen Geld.«

»Aber ich hab kein Geld!«

»Dann musst du es dir verdienen, Riley. Das ist eine einfache Regel.«

»Indem ich was tue?«, fragte sie ungläubig. »Du willst mich nicht dafür bezahlen, dass ich die Wäsche aufhänge!«

»Du kriegst kein Geld für Dinge, die du sowieso tun musst. Wenn du was verdienen willst, musst du dir einen Job suchen. Du hast Sommerferien. Genug Zeit.«

»Du bist zum Kotzen, Dad! Wer würde mich einstellen? Ich bin vierzehn!«

»Ich hätte einen Job für dich.«

Abrupt wandten sich die beiden Ava zu.

Röte schoss ihren Hals hinauf und brannte auf ihrer Haut. Sie hatte gesprochen, ohne nachzudenken. Mist, das war überhaupt nicht gut. Wenn sich ihre Haarfarbe mit ihrer Gesichtsfarbe verbündete, sah sie meistens aus wie ein frisch gestrichenes Feuerwehrauto. Hastig strich sie sich die Haare hinter die Ohren, um den Effekt zu schmälern. »Nun … ich arbeite unter anderem im Seniorenzentrum und dort suchen wir für den Sommer immer ein paar Aushilfen.«

Der Fremde verengte die Augen zu Schlitzen. »Wer zur Hölle sind Sie?«

»Ava«, sagte sie hastig und streckte die Hand aus. »Dr. Ava Chestnut.«

»Schön für Sie«, bemerkte er grimmig, ignorierte jedoch ihre Hand. »Und lassen Sie mich das so höflich wie möglich sagen, Dr. Chestnut: Kümmern Sie sich um ihren eigenen …«

»Was für ein Job ist das?«, unterbrach seine Tochter ihn aufgeregt. »Gibt es da eine Menge Geld?«

Ihr Vater presste die Lippen zusammen und alles in seinem düsteren Blick forderte Ava dazu auf, ja keine Antwort darauf zu geben.

Sie verdrehte die Augen. Oh, bitte. Im Gegensatz zu Riley war sie kein Teenager und einschüchtern ließ sie sich schon mal gar nicht. Dafür hatten die Kavanagh-Geschwister gesorgt, die sie irgendwie über die Jahre als Familienmitglied adoptiert hatten.

»Keine Menge, du würdest acht Dollar die Stunde verdienen«, sagte sie deshalb an Riley gewandt.

Der Vater des Mädchens seufzte schwer, doch sie ignorierte ihn. Sie brauchte noch jemanden und wäre froh darum, keine weiteren Vorstellungsgespräche führen zu müssen. Riley wirkte wie ein nettes Mädchen, das genug Charakter hatte, um ihrer Großmutter und dem Rest ihrer Gang die Stirn zu bieten. Was gab es also noch zu überlegen? »Wenn du am Wochenende arbeitest, kriegst du zehn. Aber der Job macht Spaß. Du wirst zwar auch eine Menge Geschirr spülen und putzen müssen, aber auch mit den Oldies Karten spielen, bei Events aushelfen, die Hühner füttern … Die Senioren sind alle sehr nett und du kannst eine Menge von ihnen lernen.« Solange sie sie nicht allzu wörtlich nahm. »Außerdem wärst du nicht die einzige Jugendliche, die dort arbeitet. Über den Sommer helfen immer ein paar Kids aus. Es wäre also eine gute Chance, neue Freunde zu finden.«

Ava sah, wie Riley mühsam versuchte, nicht sonderlich interessiert zu wirken – doch ihre Augen leuchteten wie zwei gelbe Tennisbälle aus Uran. »Ähm, okay«, sagte sie und räusperte sich. »Ja, das … das ist okay.« Sie kratzte sich am Kopf, bevor sie die Stirn runzelte. »Ich verstehe nur nicht ganz. Warum sollten Sie mir diesen Job geben? Sie kennen mich nicht. Ich könnte ein furchtbarer Mensch sein. Ich könnte stehlen und trinken und mich bei jeder Möglichkeit nackt ausziehen und … was auch immer.«

Ava lachte laut. »Abgesehen davon, dass es im Seniorenzentrum nichts außer ein paar passgenaue Gebisse zu stehlen gibt …« Sie zuckte die Achseln. »Ich erwarte Gutes von den Menschen, die ich kennenlerne. Denn wenn ich Gutes erwarte, wird mir auch Gutes widerfahren.«

Riley öffnete verblüfft die Lippen. »Wirklich?«

»Wirklich?«, sagte ihr Dad in genau demselben Moment. Doch seine Stimme war nicht ernst und bewundernd. Sie war ein wenig … verächtlich.

Irritiert blickte Ava zu Rileys Vater, der aussah, als würde er unter körperlichen Schmerzen leiden. Dennoch nickte sie. »Klar«, bemerkte sie leichthin. »Man muss den Leuten nur eine Chance geben, also gebe ich dir auch eine.« Sie lächelte, zog den Rezeptblock aus der Tasche und schrieb hastig ihre Handynummer darauf, bevor sie ihn abriss und Riley reichte. »Hier. Du kannst es dir ja überlegen. Ruf mich einfach an, wenn du gern mitmachen würdest.«

Ehrfürchtig nahm Riley die Nummer entgegen. »Danke. Das mache ich auf jeden Fall«, sagte sie, bevor ihr Blick langsam zum Gesicht ihres Vaters und wieder zurückglitt. »Und da ich schon mal hier bin: Ab wann würden Sie sagen, sollte ein Teenager einen BH tragen? Ihrer medizinischen Fachmeinung nach?«

Ihr Vater stöhnte laut auf. »Großer Gott.«

»Ähm …« Unsicher sah Ava sie an. »Ich denke nicht, dass es da eine richtige Antwort gibt.«

»Wirklich?«, sagte sie hochinteressiert. »Siehst du, Dad? Du hättest dich damals gar nicht so aufregen brauchen! Jeder kann selbst entscheiden, wann er den ersten BH braucht! Jed…«

»Okay, es reicht«, schnitt er ihr düster das Wort ab und legte ihr den Arm um die Schultern. »Wir sind hier fertig. Vielen Dank für … nichts, Dr. Walnut.«

»Chestnut. Dr. Chestnut«, korrigierte Ava ihn sofort und blinzelte. »Und entschuldigen Sie, wie sagten Sie noch gleich, ist Ihr Name?«

»Ich habe Ihnen meinen Namen nicht gesagt«, sagte er schlicht, drehte sich um und ging, seine Tochter im Schlepptau.

Mit offenem Mund sah Ava ihm nach. Was zum Teufel war sein Problem?

Kapitel 2

Weisheiten deiner Granny

Zweifle nie deine Entscheidung an.

Außer es ist eine wirklich beschissene.

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Wenn ich Gutes erwarte, wird mir auch Gutes widerfahren.

Was zur Hölle war das für eine fatale Lebenseinstellung? Liebe Güte, die Lady musste ernsthafte mentale Probleme haben. Durfte so jemand überhaupt Ärztin sein?

Kopfschüttelnd schritt Wyatt weiter den steril gehaltenen Gang entlang, der nach Desinfektionsmitteln und Linoleum roch. Menschen mit solchen Wahnvorstellungen waren kein guter Einfluss auf seine Tochter. Er versuchte seit vierzehn Jahren, Riley vor unrealistischen Erwartungen ans Leben zu schützen.

Menschen waren nicht gut. Sie waren selbstsüchtig und gierig. Und nur die Lotterie sollte blind Chancen verteilen! Wenn man den anderen nicht kannte, war es besser, sehr, sehr vorsichtig zu sein. Ach, zum Teufel, selbst wenn man glaubte, den anderen zu kennen, musste man aufpassen!

Er wollte, dass Riley verstand, dass blindes Vertrauen eine dumme Idee war. Dass man aufmerksam durchs Leben gehen und mit dem Schlimmsten rechnen musste … und da tauchte eine Ärztin mit Sonne als Gesicht auf und erzählte ihr, dass die Welt aus Regenbögen und Rittern bestand? Sicher nicht.

Wenn er gewusst hätte, dass Eden Bay mit solch furchtbaren Menschen bevölkert war, hätte er sich das mit dem Umzug noch einmal überlegt. Doch Harper hatte ihm versichert, dass die Bewohner der kleinen Hafenstadt das Beste waren, was ihr je passiert war. Sie war die loyalste, ehrlichste Person, die er kannte, also war die Entscheidung nicht schwer gewesen.

»Das war unhöflich, Dad«, bemerkte Riley schnippisch und wand sich unter seinem Arm weg. »Sie war sehr nett und du warst gemein.«

Natürlich war sie nett! Menschen, die an Einhörner und Feen glaubten, mussten es sein. »Unhöflich war es, nicht das zu tun, worum ich dich gebeten habe, Riley«, murmelte er düster.

Seine Tochter seufzte so schwer, dass er die Erde unter seinen Füßen erbeben zu spüren meinte. Diesen Ton hatte sie im letzten Jahr perfektioniert und er rechnete jeden Tag damit, dass sie ein Patent darauf anmeldete. »Du bist so 2010, Dad! Ich bin jetzt erwachsen und …«

Er schüttelte den Kopf. »Ich will es nicht hören.«

»Aber Dad …«

»Ich habe dir gesagt, du sollst auf mich warten. Hast du auf mich gewartet?«

Riley schnaubte. »Nein, natürlich nicht! Du hast ja auch eine Ewigkeit gebraucht.«

»Und wenn es zwei Ewigkeiten gewesen wären.«

»Dad, das ist mega unfair!«, regte seine Tochter sich auf und trat zusammen mit ihm durch die automatische Tür an die frische Luft. »Du kannst nicht ernsthaft sauer auf mich sein. Ich bin der Teenager und du hast mich in dieses Loch geschleppt. Also bin ich es, die dich blöd findet, nicht andersherum.«

Er hob eine Augenbraue in ihre Richtung und schwieg.

»Schön!«, sagte sie pampig und schob den Unterkiefer vor, bevor sie die Arme in die Luft warf. »Es tut mir leid, dass ich nicht der Hund bin, den du dir immer gewünscht hast! Zufrieden?«

Wem machte er etwas vor? Eine bessere Entschuldigung würde er nicht bekommen. Deswegen nickte er. »Jup«, sagte er knapp, lächelte sie an und drückte ihr einen Kuss auf den Kopf.

»Uäh, Dad!« Sie verzog das Gesicht und duckte sich hastig weg. »Hier könnten Leute anwesend sein, die mich nicht für uncool halten sollen!« Doch ein kleines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel und das war alles, was Wyatt für sein Seelenheil brauchte.

Dieses unschuldige, fast geheime Lächeln, das Riley ihm manchmal schenkte, war das Einzige, was noch von seiner hinreißenden Dreijährigen von vor elf Jahren übriggeblieben war. Manchmal vermisste er diese Zeit.

Doch dann erinnerte er sich daran, dass er damals nur vier Stunden die Nacht geschlafen hatte, um ihr und seinem Job gerecht zu werden. Dass er nichts anderes als Spaghetti oder Pfannkuchen hatte kochen können. Dass er so verdammt überfordert gewesen war, dass er seine Eltern weinend um Hilfe hatte anbetteln müssen – und er kam wieder zur Besinnung.

Es ging ihm heute tausendmal besser als damals. Er schlief sieben Stunden die Nacht, hatte eine solide Ausbildung als Hubschrauberpilot und Rettungssanitäter absolviert, er konnte über hundert Gerichte aus dem Kopf kochen und er liebte Riley mehr als Oreos und Hanteln. Was hatte er zu beanstanden?

»Weißt du, Dad«, überlegte Riley laut. »Manchmal denke ich, du bist cool. Aber dann benimmst du dich wie ein totaler Schimpanse und dann denke ich, dass du echt peinlich bist.«

Ach ja. Das. Doch wenigstens beleidigte seine Tochter ihn intelligent.

»Ich bin sehr cool«, sagte er gelassen. »Ich darf einen Hubschrauber fliegen, Menschen das Leben retten und kann einen Löffel auf meiner Nase balancieren.«

Sie verdrehte die Augen. »Du kannst nicht immer dieselben Argumente nehmen!«

»Klar, kann ich«, meinte er und lenkte Riley nach links, wo der alte Toyota stand, den er seit zehn Jahren fuhr.

»Nein, kannst du nicht«, widersprach sie. »Weder mich noch irgendeine andere Frau kannst du damit beeindrucken.«

Wenn er ehrlich war, stimmte das nicht. Er konnte damit sogar eine Menge Frauen beeindrucken – auch wenn er diesen Umstand nie für seine Zwecke nutzte. »Steig einfach ein, Riley«, sagte er ruhig und schloss den Wagen auf.

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