Guck immer nach rechts und links, bevor du eine Straße überquerst. Auch wenn du kurz davor bist, das Sudoku auf deinem Handy zu lösen.
Ethan Kavanagh, aus der Reihe »Was hast du aus der Vergangenheit gelernt?«
Über Ethan Kavanagh musste man genau vier Dinge wissen.
Erstens: Er liebte seinen Job.
Zweitens: Er liebte seine Familie.
Drittens: Er liebte Eden Bay.
Und viertens: Er war der schlechteste Schnick-Schnack-Schnuck-Spieler seit der Erfindung von Papier.
»Ethan, du nimmst immer Stein«, sagte Harper ungläubig und ließ ihre flach ausgestreckte Hand sinken. »Immer!«
»Das ist sogar mir schon aufgefallen«, bemerkte Wyatt kopfschüttelnd und sah Ethan mitleidig an. »Und ich arbeite erst seit einem Jahr bei euch auf der Wache. Ethan: Du bist ein Feuerwehrmann, der nicht durch Flammen, aber mit Hilfe eines einfachen Stück Papiers in die Knie gezwungen werden kann. Das ist traurig.«
Ethan schnaubte und löste seine Faust. Er rettete beruflich Leben, hatte ein Sixpack und konnte einen Stein bis zu sechzehnmal über eine Wasseroberfläche flippen lassen. Er hatte wirklich nicht das Gefühl, seine Männlichkeit weiter beweisen zu müssen.
»Das ist pure Absicht«, log er leichthin. »Ich infiltriere euren Geist damit, dass ich immer Stein nehme – und wenn es um eine wirklich wichtige Entscheidung geht, überfalle ich euch hinterrücks mit einer Schere.«
Seine Schwester schnaubte laut. »Oh, so ein Blödsinn. Du passt nicht auf, reagierst zu langsam und kriegst es nicht hin, deine Hand schnell genug zu öffnen.«
Ja, okay. Das war der wahre Grund. Aber ganz ehrlich, wer hatte sich überlegt, dass Papier in einem direkten Duell gegen einen Stein gewinnen würde?
Einen Stein in Papier einzuwickeln, tat dem Stein nicht weh. Im Gegenteil, es machte ihn nur geheimnisvoll und somit um einiges mächtiger. Warum zur Hölle war er dann schwächer als das zerbrechliche Pflanzenfaserkonstrukt?
»Nun, wie auch immer«, meinte Wyatt achselzuckend und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Damit ist entschieden: Du wirst in den See steigen, um die Schwanennester abzusperren, damit sie in Ruhe brüten können.« Er nickte zum Lake Lily neben ihnen, der dank der tiefstehenden Julisonne glitzerte wie tausend falsche Diamanten.
Ja, das konnte er vergessen.
»Es ist egal, dass ich verloren habe«, sagte Ethan entschuldigend und hob abwehrend die Hände. »Ich kann ohnehin nicht in den See waten.« Er deutete an seinem Bein hinab.
Harper verengte die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Findest du nicht, dass du langsam mal aufhören könntest, dein gebrochenes Bein als Ausrede zu benutzen?«
Nein, nicht mal ein bisschen. »Ich kann zurzeit nur mühsam gerade stehen, Harper«, sagte er düster. »Wie soll ich da in diesen See klettern und das Absperrband befestigen?«
Seine Schwester stöhnte frustriert auf. »Wenn du so ein Invalider bist, wieso arbeitest du dann schon wieder?«
Weil Ethan zu Hause vor Langeweile gestorben war … und eigentlich längst wieder fit sein sollte.
Shit. Wenn er ehrlich war, wünschte er, dass sein Bein wirklich nur eine Ausrede wäre, die er gegen lästige Aufgaben vorschob. Aber es stimmte: Er konnte im Moment wirklich nur mühsam gerade stehen.
Es war bereits nach sechs, das hier war der letzte Auftrag vor Ende ihres Diensts, und morgens und abends schmerzte es nun einmal am schlimmsten. Den Tag über vergaß Ethan sogar öfter einmal, dass er sich das Bein vor vier Monaten an zwei Stellen äußerst ungünstig gebrochen hatte. Doch sobald seine Schicht sich dem Ende zuneigte, fingen die Muskeln an zu krampfen und ihn daran zu erinnern, dass er keine zwanzig mehr, sondern vierunddreißig war und seine Knochen nicht mehr ganz so leicht heilten wie früher.
»Ich bin nicht invalide«, stellte er klar und sah Harper verärgert an. »Ich kann einen Krankenwagen fahren, ich kann eine Herzmassage geben und wenn es darauf ankommt, könnte ich auch in ein brennendes Haus rennen und jemanden aus den Flammen ziehen.« Auch wenn er es in seiner derzeitigen Verfassung nur wirklich ungern ausprobieren würde. »Das Einzige, was ich nicht kann, ist in einen eiskalten See zu springen und vernünftige Schwimmbewegungen zu machen.«
Harper durchleuchtete ihn mit einem skeptischen Blick, als wolle sie ergründen, ob er sie an der Nase herumführte. Doch sie schien zu dem Schluss zu kommen, dass Ethan niemals eine Schwäche eingestehen würde, wenn er nicht müsste. Was die absolute Wahrheit war.
»Schön, Wyatt, dann geh du rein«, bestimmte Harper seufzend.
Der Dritte im Bunde zog eine Grimasse und fuhr sich durch die dunkelblonden Haare. »Ich bin dazu in der Lage, einen Hubschrauber zu fliegen – ich sollte keine trivialen Arbeiten wie Schwanenschutz übernehmen müssen«, gab er zu bedenken.
Einige endlose Momente lang fuhr Harpers Blick ungeduldig und abschätzend zwischen ihnen beiden hin und her.
»Ihr seid lächerlich«, rief sie schließlich düster und zog sich das T-Shirt über den Kopf. »Alle beide!«
Um zu diesem Schluss zu kommen, hatte sie mehr als ein paar Sekunden gebraucht? Ethan fand, das war doch recht offensichtlich.
»Danke, Lämmchen!«, rief er ihr hinterher, während sie sich auch ihrer Hose entledigte, das Absperrband nahm und kurzerhand in Unterwäsche auf den See zuging.
Sie zeigte ihm den Mittelfinger.
Wyatt lachte leise. »Du hättest dich wirklich nicht ausziehen müssen, Harper! Du hättest von der Seite in deiner Kluft reinwaten können.«
Sie schwenkte ihren Mittelfinger in seine Richtung.
Ethan grinste. »Ich bin schockiert! Was würde Mama sagen, wenn sie das sehen könnte?«
»Dass du ein Weichei bist und ich ihr Lieblingskind!«
»Da ist was Wahres dran«, stimmte Wyatt zu. Er war der Freund von Ava, dem Ehrenmitglied der Familie Kavanagh, und mittlerweile bei jedem Familienessen dabei. Er konnte also leider eine recht gute Einschätzung darüber geben, wer gerade in Irene Kavanaghs Gunst stand und wer nicht. »Du beleidigst deine Mutter zutiefst, indem du noch immer Single bist, Eth. Harper befindet sich zumindest in einer gefestigten Beziehung und gibt ihr Hoffnung auf weitere Enkelkinder.«
Er schnaubte und rieb abwesend über seinen linken Oberschenkel, der innerhalb der letzten halben Stunde angefangen hatte, dumpf zu pochen. »Ich würde ja lachen, wenn es nicht wahr wäre«, bemerkte er unzufrieden. »Das Erste, was sie mir im Krankenhaus gesagt hat, war: Oh nein. Das gebrochene Bein wirst du doch nur wieder benutzen, um dich vor einer echten Beziehung und einer Traumhochzeit zu drücken.«
Wyatt, der Bastard, grinste breit. »Eine weise Frau, deine Mutter. Denn genau das tust du.« Er seufzte theatralisch auf. »Du verschließt dich vor der wahren Liebe und nutzt jeden Stolperstein in deinem Leben, um das zu rechtfertigen.«
Oh, bitte. Er brauchte keine Ausrede. Wenn er allein bleiben wollte, würde er allein bleiben. Es war sein Leben. Er musste nicht rechtfertigen, warum er Liebe für ein schrecklich dämliches Konzept hielt, das mehr Schaden als eine Handgranate anrichten konnte. Es war eben so. Punkt.
Freundlich lächelte er Wyatt an. »Weißt du, du warst so ein cooler Typ, als du bei uns angefangen hast. Aber seit du mit Ava zusammen bist, scheint dein Kopf nur noch mit Einhörnern, rosa Wolken und einer großen, gähnenden, verliebten Leere gefüllt zu sein.«
Der Hubschrauberpilot sah nicht im Mindesten beleidigt aus. »Ich weiß – und es ist fantastisch. Was hast du deiner Mutter denn auf ihren Vorwurf geantwortet, wenn ich fragen darf?«
Er zuckte die Achseln und beobachtete Harper dabei, wie sie das Absperrband an ein paar Schilfrohren befestigte.
»Dass ich womöglich niemals heiraten werde«, antwortete er abwesend.
Missbilligend schnalzte Wyatt mit der Zunge. »Du bist herzlos, deine Mutter derart zu schockieren. Das kann unmöglich gut für ihren Blutdruck gewesen sein.«
»Na ja, es ist wahrscheinlich die Wahrheit. Ich dachte, es wäre nur fair von mir, sie sich schon einmal an diesen Gedanken gewöhnen zu lassen.«
Abgesehen davon: Sie hatte fünf Kinder und drei davon waren entweder verheiratet oder in einer ernsten Langzeitbeziehung. Ethan fand, seine Mutter sollte damit leben können, wenn einer ihrer Söhne sich gegen Ehe und Familie entschied.
Skeptisch sah Wyatt ihn an. »Glaubst du das wirklich?«
»Jop«, sagte er knapp und meinte es so.
Es hatte in Ethans Leben nur eine einzige Frau gegeben, die er geheiratet hätte.
Eine Frau, in die er so furchtbar verliebt gewesen war, dass er ein ganzes Jahr lang aufgehört hatte zu funktionieren, als ihre Beziehung in spektakuläre Flammen aufgegangen und zu Asche zerfallen war. Es war egal, wer die Schuld daran trug, dass es nicht funktioniert hatte – auch wenn Laura seiner Meinung nach größeren Mist verzapft hatte als er –, unterm Strich war er nach ihr ein Wrack gewesen. Ein erbärmliches, eifersüchtiges, zielloses, todunglückliches Wrack, das er selbst nicht wiedererkannt hatte. Er hatte die Stadt verlassen, ein Jahr im Ausland leben und seine gesamte Bettwäsche verbrennen müssen, um wieder zu Sinnen zu kommen.
Ethan hatte absolut keine Lust, je wieder an diesen Punkt zurückzukehren. Es war mittlerweile fast acht Jahre her, doch er erinnerte sich noch sehr gut an all die schrecklichen Gefühle, die er damals durchlitten hatte.
Wenn ein Leben als Dauersingle also bedeutete, sich niemals wieder so fühlen zu müssen, war das ein Preis, den er bereit war zu zahlen.
Auch wenn er wusste, dass er zurzeit nicht der glücklichste Keks im Kuchenland war – zumindest war er auch nicht der beschissen unglücklichste von damals.
Wyatt sah noch immer nicht überzeugt aus. »Ach, ich dachte das auch mal. Aber du wirst deine Meinung ändern, sobald du die richtige Frau triffst.«
Nein, würde er nicht. Denn er hatte die richtige Frau getroffen – und sie hatten einander das Herz gebrochen.
»Was auch immer«, sagte er und winkte ab. »Kannst du Ava nicht endlich mal einen Antrag machen? Das würde Mom für ein paar Monate ablenken.«
»Untersteh dich, Wyatt!«, rief Harper übers Wasser, die ihre Unterhaltung offenbar mitangehört hatte. »Das würde Mom nur als Anlass nehmen, Adam und mich ebenfalls zum Altar zu drängen.«
Wyatt lachte leise. »Mach dir keine Sorgen, Harpyie. Wir sind noch nicht so weit.«
Oh, bitte. Ethan gab ihnen noch sechs Monate, dann waren sie verlobt und er würde auf eine weitere Hochzeit gehen müssen, die ihn mit einem bitteren Gefühl im Magen zurückließ. Und es würde nicht bei dieser bleiben.
Alle seine Freunde und Kollegen waren verlobt, verheiratet, erwarteten ihr erstes Kind oder planten, eins zu bekommen.
Es war furchtbar.
Tief atmete er durch, während Wyatt und Harper sich weiter schreiend über Hochzeit und Co. unterhielten.
Ethan schaltete ab und ignorierte jedes einzelne Wort.
Zurzeit hatte er nicht einmal Lust zu daten.
Ehrlich gesagt wollte er einfach nichts mehr von diesem Blödsinn hören!
»Ethan, ich hab die perfekte Frau für dich!«
Seufzend schlug Ethan die Autotür hinter sich zu. So viel dazu. »Sag mal, Ava, hast du extra hier auf dem Bürgersteig vor meinem Haus gelungert und auf mich gewartet, um mir exakt das sagen zu können?«
»Nein, ich hab auf Wyatt gewartet«, bemerkte sie lächelnd und gab besagtem Mann, der gerade den Wagen abschloss, einen Kuss auf die Wange. »Dass ich dich ebenfalls erwische, war nur ein kleiner Bonus.«
Klasse.
Ethan rieb sich über das Gesicht, denn Avas Strahlen war zu viel für jede Energiesparlampe – und heute auch zu viel für ihn.
Die rothaarige Ärztin war seit Kurzem seine Nachbarin, da sie zu Wyatt gezogen war, der das Haus nebenan bewohnte.
Ethan liebte Ava. Er kannte sie sein halbes Leben lang und sie war so etwas wie eine Schwester für ihn. Aber er hasste es, dass sie sein Privatleben als persönlichen Spielplatz ansah.
Sie war der Meinung, dass jeder Mensch auf der ganzen Welt – aber vor allem in Eden Bay – seinen Seelenverwandten finden sollte.
Als Ethan ihr jedoch hatte verklickern wollen, dass seine Seelenverwandten ein Guinness und ein Glas Nutella waren, hatte sie ihn düster angesehen und einen bedrohlichen Zeigefinger auf ihn gerichtet, der E.T. neidisch gemacht hätte. Seitdem schwärmte sie ihm ständig von irgendwelchen Traumfrauen vor, die sein Herz im Sturm erobern würden.
Aber Ethan mochte keine Stürme. Wegen denen wurde er nämlich nachts aus dem Schlaf geklingelt, um bei Notfalleinsätzen der Feuerwehr auszuhelfen. Er verzichtete also liebend gern darauf.
»Ich hab kein Interesse, Ava«, sagte er freundlich. »Aber vielen Dank, dass du an mich gedacht hast.«
Er hob die Hand und lief den Kiesweg zu seinem Haus hinauf. Die zweistöckige, hellblaue, hölzerne Schönheit mit weißen Fensterläden, einem weinroten Gartenzaun und dunkelgrauen Schindeln stand am Fuß der grünen Berge, die Eden Bay zu einem beliebten Ziel von Outdoor-Fans jeglicher Art machten. Es roch nach den Kiefern des Waldes, der es umringte, und nachts, wenn Ethan nicht schlafen konnte, kletterte er aufs Dach und besah sich den klaren Sternenhimmel von Maine, der zwischen den sanft wiegenden Wipfeln hindurchschimmerte.
Ethan liebte alles an dem Haus.
Alles, bis auf die Tatsache, dass er es sich eigentlich nicht hatte leisten können.
Aber er träumte seit seiner Kindheit davon, irgendwann ein Häuschen im Wald mit weitläufigem Garten, zirpenden Grillen und dem Sternenhimmel zum Greifen nah zu besitzen. Als er gesehen hatte, dass dieses hier zum Verkauf stand, war ihm also keine andere Wahl geblieben, als ein Angebot zu machen.
Und nun, fast ein Jahr später, hatte er einen Berg an Schulden, seinen Bruder Jax als Mitbewohner und eine Katze namens Bello, die ihn hasste, weil er sich weigerte, seine Hände mit Thunfisch einzuschmieren.
Alles in allem hatte Ethan sich sein Leben als Mittdreißiger früher immer etwas anders vorgestellt. Aber es könnte weitaus schlimmer aussehen.
»Ethan! Ethan, bleib stehen, du Blödmann.«
Stöhnend hielt er inne. Aber wenn Ava schon so skandalöse Ausdrücke wie Blödmann in den Mund nahm, musste es ernst sein. »Ja?«, fragte er unschuldig und wandte sich um.
Verärgert stemmte sie die Hände in die Seiten, während ihre Augenbrauen zu einer zornigen, geraden Linie verschmolzen. »Du hast schon Nein gesagt, bevor ich dir überhaupt erzählt habe, wer genau diese perfekte Frau ist«, sagte sie genervt.
»Das musst du nicht«, versicherte er ihr. »Ich steh nicht auf perfekte Frauen. Sie schüchtern mich ein und erinnern mich an meine Unzulänglichkeiten.« Tief seufzend legte er sich die Hand auf die Brust.
Ava verdrehte ausdrucksstark die Augen. »So ein Schwachsinn, du ignorierst deine Unzulänglichkeiten seit deinem zehnten Lebensjahr so gekonnt, dass viele Frauen tatsächlich glauben, du hättest keine.«
Ein Lächeln zog an seinen Mundwinkeln. »Es ist ein Talent.«
»Nein, es ist eine Zumutung«, korrigierte sie ihn sachlich. »Also, gib der Frau wenigstens eine Chance, bevor du direkt Nein sagst! Sie ist Ärztin, so wie ich. Sie hat eine große Familie, so wie du. Sie liebt den Wald und Feuerwehrserien, weshalb sie definitiv auf dich stehen wird, und ist auch wirklich lustig. Sie hat mir letztens zum Beispiel erzählt, dass …«
Ethan schaltete ab. Ebenfalls eines seiner Talente. Worte, die er nicht hören wollte, einfach auszublenden.
Denn liebe Güte, Ava musste wirklich aufhören zu reden.
Ethan wollte nichts als sich hinzusetzen, bevor der stechende Schmerz in seinem Bein zu einem brutalen Ziehen heranwuchs. Dennoch ließ er sie weiterreden und nickte ab und zu, denn seine Mutter hatte ihm ja einbläuen müssen, dass Höflichkeit wichtig war.
Seine angespannten Muskeln fingen an zu zittern und Schweiß trat auf seine Stirn.
Fuck.
Vielleicht hatte Harper ja doch recht. Er war ein Invalider.
Ein Invalider, der Ava Einhalt gebieten musste, bevor er seitlich auf seinen ungemähten Rasen kippte. »Ich will nicht daten, Ava«, unterbrach er sie laut. »Egal, was du mir über diese tolle Frau erzählst: Ich will sie nicht kennenlernen.«
Verblüfft öffnete seine Freundin den Mund. »Aber warum nicht?«
»Muss ich denn einen Grund haben?«, fragte er gequält.
»Ja«, erwiderte sie verdutzt.
»Schön. Ich bin schwul! Deswegen nicht interessiert.«
Ava schnaubte, bevor sie ihn mit nachdenklich verengten Augen durchleuchtete. »Es ist immer noch wegen Laura, oder?«, fragte sie schließlich mitfühlend.
Oh, großer Gott. Diesen Brunnen würde Ethan sicherlich nicht hinabpurzeln. »Nein, Ava«, sagte er ungeduldig. »Es ist nicht wegen meiner Ex-Freundin, von der ich mich vor acht Jahren getrennt habe.«
»Ich glaube dir nicht«, sagte sie schlicht. »Abgesehen davon bin ich mir ziemlich sicher, dass sie es war, die sich von dir getrennt hat.«
Ethan spannte den Kiefer an.
Ja, vielleicht. »Vollkommen egal!«, sagte er mit Nachdruck. »Ich bin seit Ewigkeiten über Laura hinweg, sie ist mir absolut gleichgültig – trotzdem möchte ich gerade niemanden kennenlernen. Ich hab andere Dinge im Kopf, Ava. Es wäre also sehr freundlich, wenn du endlich aufhören würdest, zu versuchen, mich zu verkuppeln!«
»Aber ich will, dass du glücklich bist, Eth«, sagte sie vorsichtig.
»Ich bin glücklich genug, Ava!«
»Aber …« Sie seufzte schwer und sah ihn unzufrieden an. »Wenn man verliebt ist, erscheint die Welt besser, weißt du?«
Er schnaubte. »Ja, natürlich. Weil man dümmer ist.«
Avas Blick verdüsterte sich sofort. So wie immer, wenn man in ihrer Gegenwart über die Liebe herzog. »Gefühle machen nicht dumm!«
Das war Ansichtssache. »Ist mir alles egal, solange wir dieses Gespräch jetzt endlich beenden.«
Ava sah ihn an, als habe er soeben Armor mit einem Pfeil erschossen.
Jaja, er verhielt sich wie der letzte Idiot und es tat ihm ja auch leid … aber er hatte verdammt noch mal Schmerzen. Immer, wenn er sein Bein zu lang belastete oder auch nur im falschen Winkel drehte, fühlte es sich an, als habe jemand eine Packung brennender Streichhölzer sein Hosenbein hinuntergeworfen.
Das sagte er natürlich niemandem. Nicht, weil er ein starker Mann und hart im Nehmen war – obwohl beides natürlich stimmte –, sondern schlichtweg, weil er es nicht mehr ertrug, von seiner gesamten Familie bemuttert zu werden. Abgesehen davon hatte sein Freund Jon, der Held, der ihn umgefahren hatte, ohnehin schon schlimme Schuldgefühle. Dabei war es nicht seine Schuld gewesen.
Wenn Ethan die Wahl gehabt hätte, hätte er der ganzen Stadt irgendeine heroische Geschichte über seinen Beinbruch erzählt. Dass er ein verletztes Eichhörnchen aus dem Baum gerettet hatte. Oder aber ein Baby vorm Ertrinken bewahrt hatte, aber beim Sprung von der Klippe an einem kantigen Felsen hängengeblieben war.
Leider hatte halb Eden Bay beobachtet, wie er mit Blick auf sein Handy auf die Straße spaziert war, Jon ihn mit fünf Stundenkilometern angestupst hatte und er scheiße unglücklich auf die Bordsteinkante gefallen war. Er würde also für immer der dämliche Typ bleiben, der sich sein Bein wegen des fast fertigen Sudokus auf seinem Handy an zwei Stellen gebrochen hatte. Was schade war, da er bereits der dämliche Typ war, der sich ein Haus gekauft hatte, das er sich nicht leisten konnte und der dämliche Typ, der an den Weihnachtsmann geglaubt hatte, bis er vierzehn war.
Die Knochen waren wieder zusammengewachsen und laufen konnte er auch, aber die Muskeln um seinen Oberschenkel waren noch immer steif und die Narbe, die die OP an seinem Bein nach sich gezogen hatte, schmerzte höllisch, wenn er es falsch bewegte. Was äußerst schlecht war, denn er brauchte für seinen Job einen voll funktionstüchtigen Körper.
Und jetzt brauchte er ihn eigentlich auch, denn shit, seine Muskeln gaben unter seinem Gewicht nach.
Im nächsten Moment sank er unbeholfen auf die Stufe vor seiner Haustür und sog zischend Luft ein. Das war unangenehm, aber noch immer besser, als vor Schmerzen in Ohnmacht zu fallen.
»Fuck«, entfuhr es ihm, bevor er mit beiden Händen über das Bein rieb, um die Muskelstränge zu entspannen.
»Ethan!«, sagte Ava bestürzt und hockte sich sofort vor ihn hin. »Was zur Hölle? Warum sagst du denn nichts?«
»Es ist halb so wild«, log er, während Übelkeit seinen Hals hinaufkletterte. Er hatte es diesmal wirklich zu sehr ausgereizt.
»Du meintest letzte Woche beim Familienessen noch, dein Bein täte nicht mehr weh!«, rief sie vorwurfsvoll.
»Es tut ja auch nicht weh … wenn ich es nicht bewege.«
*Die mit * gekennzeichneten Links sind sogenannte Affiliate Links. Kommt über einen solchen Link ein Einkauf zustande, werde ich mit einer Provision beteiligt. Für dich entstehen dabei keine Mehrkosten. Wo, wann und wie du ein Produkt kaufst, bleibt natürlich dir überlassen.