Sometimes we have no luck, sometimes everything goes to f***. Sometimes life is shit. Sometimes life‘s a b****.
- Shit, von Vanna Reys Album »Deprimierende Songs, die ich niemals veröffentlichen werde.«
Das Leben war merkwürdig. Da besaß man vierhundert Millionen Dollar und trotzdem gab es noch immer Dinge, die man sich nicht leisten konnte.
Zumindest hatte man das Vanna Rey die letzten vier Wochen pausenlos erzählt. Sie konnte sich keine weiteren Fehltritte mehr leisten. Keine miese Presse. Keine neue Beziehung oder gar Affäre. Keine neuen Hobbys, solange sie noch kein neues Album in den Startlöchern hatte. Und wenn ihr Agent recht behielt, konnte sie es sich jetzt nicht einmal mehr leisten, in ihrem eigenen Haus wohnen zu bleiben.
»Es ist viel zu gefährlich! Herrgott, Vanna, jeder zweite Papparazzo in Los Angeles weiß, wo du wohnst. Ein fanatischer Stalker findet das Haus genauso leicht. Wenn du nicht aufpasst, bricht er bei dir ein und bringt dich im Schlaf um!«
Ah ja, das hatte sie gerade bei ihrer Aufzählung vergessen. Einen unaufmerksamen Moment konnte sie sich ebenfalls nicht leisten. Zumindest behauptete der psychopathische Stalker das, der ihr seit Monaten – seit bekannt war, dass sie sich von ihrem Mann, Pop-Legende Keanu Crane scheiden ließ – freundliche Morddrohungen schickte.
Vanna lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schloss stöhnend die Augen. Seit Wochen führte sie immer und immer wieder dieselbe Unterhaltung mit Ron. Er war seit fünf Jahren ihr Agent und guter Freund, aber er übertrieb es mit seiner Sorge!
»Hey, wenn er es im Schlaf tut, habe ich zumindest keine Schmerzen, oder?«, meinte sie unbekümmert und hielt sich das Telefon ans andere Ohr. »Es gibt schlimmere Arten und Weisen, ins Gras zu beißen.«
»Das ist kein Spaß, Vanna«, belehrte Ron sie hart. »Der Typ meint es ernst. Es ist bereits die vierte Drohnachricht! Und diesmal lag ein Foto von dir in irgendeinem Restaurant bei. Der Kerl verfolgt dich!«
»Wieso denkst du, dass es ein Kerl ist?«, wollte sie wissen. »Ist das nicht etwas sexistisch? Heutzutage können auch Frauen bedrohliche Stalker und Psycho-Fans sein, die – wie hieß es noch in der Nachricht? – … mich gern auf eine Harpune aufspießen und über offenem Feuer grillen würden, weil ich Keanu das Herz gebrochen habe.«
»Du nimmst das nicht ernst«, sagte Ron frustriert.
Sie presste die Lippen zusammen. Doch, sie nahm es sehr ernst. Ihr Leben war zwar derzeit eine einzige Katastrophe, aber frühzeitig das Zeitliche segnen wollte sie trotzdem nicht. Es war nur so: Sie verlor bereits ihren Verstand, ihren Schlaf, ihre Bewegungsfreiheit und ihren guten Ruf. Da konnte sie doch zumindest ihren Humor behalten, oder? Der gehörte noch ihr.
»Ronald, was soll ich tun?«, fragte sie angespannt. »Ich kann mich nicht den Rest meines Lebens verkriechen und vor Psychopathen verstecken. Dafür gibt es zu verdammt viele!«
»Nein, aber tauch zumindest für ein paar Wochen unter.«
Sie lachte ungläubig. »Und wo zum Henker soll ich hin, wo mich niemand erkennt und kein Papparazzo findet?«
»Keine Ahnung. Irgendwo ans andere Ende des Landes! Möglichst weit weg von hier. Es ist doch ohnehin gerade für dich eine Qual, in L.A. zu sein. Mit all der schrecklichen Berichterstattung über dich und Keanu.«
»Und? Ich werde nicht weglaufen«, sagte sie scharf. Sie war eine Menge Dinge, aber nicht feige! »Nur weil mir ein paar Fotografen und Käseblätter das Leben zur Hölle machen, fliehe ich nicht direkt aus der Stadt.«
»Es geht nicht um die Fotografen, sondern um deinen Stalker«, korrigierte Ron sie. »Dass die Presse dich dann erst mal in Ruhe lassen würde, ist nur ein hübscher Nebeneffekt.«
Schnaubend rieb sie sich über die Nasenwurzel. Warum war das Leben nur so … anstrengend? Wieso gönnte das Schicksal ihr nicht mal ein paar Monate Ruhe?
»Schön. Ich denk drüber nach«, erwiderte sie erschöpft. »Ich melde mich die Tage deswegen noch mal bei dir, ja? So lange schlafe ich bei Freunden. Bis das neue Sicherheitssystem an meinem Haus in den Hills installiert wurde.«
»Okay. Klingt nach einem Plan.« Ron hörte sich immer noch unzufrieden, aber zumindest etwas beruhigter an. »Bis dann, Vanna. Pass auf dich auf.«
»Jap«, meinte sie knapp und legte auf.
Das Gespräch war anstrengender als ihr Krafttraining mit ihrem Fitnesstrainer gewesen – und nach zwei Stunden mit Tom konnte sie sich nicht mehr bewegen.
Shit. Das war alles … zu viel.
Irgendwann musste es auch wieder bergauf gehen, oder? Irgendwann konnte sie nicht mehr tiefer sinken. An irgendeinem Punkt musste es doch nur noch besser werden können! Doch sie fürchtete, diesen Punkt hatte sie noch nicht erreicht. Vielleicht, wenn ihr psychopatischer Fan – jetzt eindeutig Nicht-Mehr-Fan – mit einem Messer im Anschlag über ihr stand. Vielleicht dann.
Stöhnend warf sie das Telefon zurück in ihre Handtasche, bevor sie sich vorbeugte und den Mann ihr gegenüber fixierte. »Entschuldige dafür. Ich musste kurz drangehen. Wo waren wir?«
Connor Stone hob eine einzelne Augenbraue. Das bedeutete in etwa so viel wie: »Alles okay? Wenn nicht, tut es mir leid, aber behalte deinen Scheiß für dich.« Connor löste liebend gern all ihre Probleme, allerdings nur, wenn er dafür bezahlt wurde.
»Wir waren bei deiner Unterschrift. Genau hier«, sagte er gedehnt und schob ihr ein Blatt Papier über den Tisch, den Zeigefinger auf eine einzelne Linie am unteren Rand gelegt.
»Das ist alles?«, fragte sie stirnrunzelnd. »Da muss ich unterschreiben und dann bin ich geschieden?«
»Crane muss auch noch unterzeichnen, aber ja. Dann bist du geschieden«, bestätigte er und reichte ihr einen Kugelschreiber.
»Klasse«, flüsterte sie und nahm ihn zögerlich entgegen. »Weißt du, ich dachte, dass das Treffen mit dir das Schlimmste an diesem Tag sein würde.« Sie zog eine Grimasse. »Nichts für ungut, aber Mann … Morddrohungen können einem wirklich den Tag versauen. Noch mehr als Scheidungspapiere zu unterzeichnen«, murmelte sie verdrießlich, bevor sie ihren Namen ohne Umschweife unter das Dokument setzte.
Sie war bereits seit anderthalb Jahren von Keanu getrennt, auch wenn die Presse was anderes glaubte. Es tat nicht mehr weh und war die richtige Entscheidung gewesen. Auch wenn ihr Ex-Mann anderer Meinung war. Ihr Leben würde sich zum Besseren wenden. Auch wenn ihre Fans was anderes dachten und jeden Tag versuchten, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Aber wenn es nach ihr ging, unterschrieb sie den Wisch und die Sache war gelaufen. Der Gedanke sollte sie erleichtern, aber das tat er nicht.
Denn es gab ja noch immer die freundlichen Drohnachrichten, die liebenswürdige Hass-Presse und ihren fabelhaften Fast-Ex-Mann, der ihre Mailbox zutextete und sie davon überzeugen wollte, es noch mal mit ihm zu versuchen. Aber das würde nicht passieren. Er wusste, was er getan hatte. Ebenso wie er wusste, dass es unentschuldbar war.
»Jap«, meinte Connor. »Hab ich auch gehört. Morddrohungen, Stau und Familientreffen. Das treibt normalerweise jede Stimmung in den Keller.«
Sie lachte widerwillig. »Familientreffen?«
»Du kennst meine Familie nicht, du darfst also nicht urteilen«, warnte er.
»Leiten deine Geschwister nicht irgendeine Konditorei in Maine?« Sie erinnerte sich vage, dass er ihr davon erzählt hatte. »Menschen, die beruflich mit Torten umgehen, können so schrecklich nicht sein.«
»Oh, sie sind nicht schrecklich, sie sind wunderbar«, stellte er klar. »Aber sie nehmen sich jeden Tag das Recht heraus, mein Leben und meine Entscheidungen zu kritisieren und sich dann auch noch Sorgen um mich zu machen. Und das aus dreitausend Meilen Entfernung.«
Ihr Herz wurde schwer. Was würde sie dafür geben, eine Familie zu haben, die sich täglich um sie sorgte? Das hörte sich traumhaft an.
»Du jammerst wegen nichts«, informierte sie ihn deswegen höflich, bevor sie den Stift fallen und den Nacken kreisen ließ. »Können wir dann kurz noch mal zu den Morddrohungen zurückkommen?«, bat sie. »Ich meine … sie sind nicht ernst gemeint, oder? Die meisten der Nachrichten sind mit Schreibmaschine gedruckt. Der Täter ist also vermutlich über neunzig und hätte gar nicht die Kraft, mich zu töten. Richtig?«
»Keine Ahnung!«, sagte Connor ungläubig. »Ich bin weder Polizist noch der Täter. Wieso kommst du damit also zu mir?«
»Nun, es geht um eine kriminelle Tat und du bist mein Anwalt.«
»Dein Scheidungsanwalt.«
Sie seufzte schwer und vergrub den Kopf in den Händen. »Dann versuch doch, mich von dem blöden Drohnachrichtenschreiber zu scheiden! Ernsthaft, ich bin langsam ein wenig verzweifelt. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Connor. Es ist die vierte Nachricht. Mein Management dreht durch und behandelt mich nicht mehr wie einen vernünftigen Menschen. Ich hab keinen Schimmer, wie ich darauf reagieren soll.« Sie rieb sich über die Augen. »Wenn ich die Stadt verlasse, stellt die Presse es so hin, als würde ich mich wegen eines schlechten Gewissens zurückziehen. Weil ich dem Liebling der Vereinigten Staaten das Herz gebrochen habe und mich schäme. Aber wenn ich die Stadt nicht verlasse, werde ich womöglich umgebracht, also … Es ist eine schwierige Entscheidung.«
Connor seufzte lautstark. Doch er konnte so genervt tun, wie er wollte: Sie wusste, dass er das Herz am richtigen Fleck hatte und sie mittlerweile als so etwas wie eine Freundin ansah. Auch wenn es ihm sicherlich schwerfiel das einzusehen, da er eigentlich keine Freundinnen hatte, mit denen er nicht schlief. Doch sie hatten das letzte Jahr über viel Zeit miteinander verbracht … und er hatte ihr mehr als einmal den Arsch gerettet.
Ihr war nach der Trennung alles egal gewesen. Sie hätte ihrem Ex-Mann Keanu auch ihre letzten Millionen geschenkt, wenn es nur bedeutet hätte, dass sie endlich von ihm wegkam. Sie hatte den Albtraum einfach nur beenden – wohingegen Keanu ihn so lang wie möglich hatte hinauszögern wollen. Während sie also vor Paparazzi geflohen war, die sie unbedingt beim Weinen erwischen wollten, und ihrem Agenten den Vogel gezeigt hatte, als er sie angefleht hatte, es doch noch mal mit Keanu zu versuchen, ihre Ehe sei so gut zu vermarkten gewesen, hatte Connor dafür gesorgt, dass sie bei Sinnen blieb. Keanus Anwalt war ein Lappen gewesen und Connor – nun, man nannte ihn in L.A. nicht umsonst den Killerwal unter den Scheidungsanwälten.
»Vanna, es ist keine schwierige Entscheidung. Es geht darum, dass du lebst oder deinen Stolz bewahrst«, sagte Connor leise und riss sie somit aus ihren Gedanken. Er drückte ihre Hand und sah sie eindringlich an. »Das weißt du.«
Unzufrieden biss sie die Zähne aufeinander. »Ich mochte dich lieber, als du noch so getan hast, als würdest du dich nicht für meine Probleme interessieren.«
Er grinste und zuckte die Achseln. »Ich bin einfach sehr gut darin, Ratschläge zu geben. Es wäre selbstsüchtig, sie alle für mich zu behalten. Also, ich sag dir was: Du musst hier raus, Vanna. Das denke ich schon seit Tagen. Verschwinde aus L.A. Nur für ein paar Wochen. An einen sicheren Ort.«
Sie schnaubte. »Und was für ein Ort soll das sein? Alle sagen mir andauernd, dass ich abhauen soll, aber niemand erklärt mir, wohin. Als gäbe es Hunderte Orte auf der anderen Seite des Landes, die dafür bekannt sind, berühmte Sängerinnen mit offenen Armen aufzunehmen, sie vor einer Horde Fotografen und einem möglichen Mörder zu verstecken.«
Connor runzelte die Stirn und neigte nachdenklich den Kopf. »Mhm«, machte er dann.
»Was?«, fragte sie ungeduldig.
Er lachte trocken auf und rieb sich den Nacken. »Ich kenne genau so einen Ort.«
Verwirrt blinzelte sie ihn an. »Wovon redest du?«
»Na ja, erinnerst du dich an meine Geschwister, von denen wir gerade noch geredet haben? Sie wohnen in einem kleinen Nest oben in Maine. Schlechtes Internet, guter Humor, diskrete Leute. Meine Schwester hat vor ein paar Monaten ein Baby bekommen und ich bin hochgeflogen, um es zu bewundern und … Mann, dieses Städtchen ist so furchtbar idyllisch und freundlich, dass es geradezu ein Kulturschock für mich war. Ich bin mir sicher, dass du dort für ein paar Wochen untertauchen könntest.«
Perplex öffnete sie den Mund. »Ernsthaft?«
»Ja. Die Leute da sind alle sehr loyal und wenn meine Geschwister sie darum bitten, zu verheimlichen, dass du da bist … Ich glaube, das würden sie tun.«
»Ähm. Okay«, erwiderte sie überrumpelte. »Aber … na ja, wie gesagt: Ich möchte nicht weglaufen.«
Er winkte ab. »Du läufst nicht weg, du machst Urlaub … am besten mit einem Bodyguard.«
Sie schnaubte. »Ich nehme ganz bestimm keinen der Affen von hier mit.«
Connor nickte langsam, so als würde er verstehen. Im nächsten Moment zückte er sein Handy und tippte darauf herum, bevor er murmelte: »Na, in Eden Bay gibt es vielleicht jemanden, der dir da Abhilfe schaffen kann.« Stirnrunzelnd hielt der den Hörer ans Ohr. »Moment. Ich frag einfach mal. Und ich mach den Lautsprecher für dich an, okay? Dann kannst du hören, worauf du dich einlassen würdest.«
Immer noch etwas überfordert lauschte sie dem lauten Tuten, während ihr ein einziger Gedanke im Kopf herumspukte: Eden Bay? War das sein Ernst? Wie albern klang dieser Stadtname bitte?
»Waterboys, Allie am Apparat, was kann ich für Sie tun?«, ertönte im nächsten Moment eine weibliche Stimme aus Connors Telefon.
»Hey Allie, hier ist Connor«, meldete er sich.
»Connor«, stieß sie überrascht aus. »Meine Güte, hält dir jemand eine Knarre an den Kopf und zwingt dich zu diesem Anruf? Du bist doch sonst immer zu beschäftigt, um dich zu melden.«
Er verdrehte die Augen. »Ja, vielleicht, weil ich dann immer direkt vors Stone-Tribunal geschleppt werde. Aber ich ruf nicht für mich an, sondern für eine … Freundin.«
Die Frau am anderen Ende lachte laut. »Das hast du? Freundinnen? Ich dachte, du schläfst mit Frauen, lässt sie keine zwei Tage später links liegen und wunderst dich dann darüber, dass es die ‚Connor Stone ist scheiße‘-Website gibt.«
Vanna grinste breit. Diese Allie hörte sich sehr sympathisch an. »Die gibt es?«, wollte sie wissen und holte ihr Handy aus der Handtasche. »Gott, dass muss ich direkt mal googeln.«
Verärgert schlug Connor ihr das Telefon aus der Hand, sodass es laut auf den Tisch fiel. »Jaja, haha, ich habe zu viele Affären und soll mich endlich niederlassen. Erzähl es jemandem, den es interessiert. Pass auf, Allie, neben mir sitzt Vanna Rey. Sie hat zurzeit ein paar Probleme in L.A. und sucht nach einem Ort, an dem sie für ein paar Wochen untertauchen und einem möglicherweise gefährlichen Stalker aus dem Weg gehen kann. Da dachte ich, Eden Bay wäre keine schlechte Wahl.«
Abrupte Stille war die Antwort. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit: »Vanna Rey? Die Sängerin?«
»Jap.«
Vanna seufzte schwer und wartete darauf, dass Allie laut aufquietschte, hyperventilierte oder anfing, sie zu beschimpfen, weil sie den lieblichen Keanu in den Wind geschossen hatte. Doch sie wartete vergebens.
»Okay«, sagte die fremde Frau nach einer Weile schlicht. »Klar. Aber Moment, was soll das heißen, gefährlicher Stalker? Wie gefährlich? Braucht sie Personenschutz?«
»Nein«, sagte sie sofort und verdrehte die Augen.
»Jap«, widersprach Connor im selben Moment. »Du hängst doch mit so vielen Muskelmännern herum, hat da zufällig jemand die nächsten Wochen über Zeit?«
Allie lachte laut. »Weißt du was? Ich hab genau den richtigen Kandidaten für den Job.« Eine Sekunde später klackerte es, so als hätte sie das Telefon weggelegt, bevor Vanna sie laut rufen hörte: »Hey, Seth! Hast du Lust, die nächsten Wochen Bodyguard für einen Popstar zu spielen? Hier in Eden Bay? Sie hat wohl Probleme mit einem Stalker.«
Eine dunkle Stimme antwortete. »Was für ein Popstar? Ach, weißt du was, ist mit eigentlich auch egal. Wenn ich helfen kann, gern. Innerhalb der Wintersaison kommen sowieso immer nur sehr wenige Aufträge rein, hab nur ein paar Schwimmkurse und so zu geben.«
Vanna blickte ungläubig zu Connor, bevor sie zischte: »Ein Schwimmlehrer soll dafür sorgen, dass ich am Leben bleibe?«
Offenbar war sie nicht leise genug gewesen, denn Allie lachte auf der anderen Seite. »Er ist kein Schwimmlehrer. Also im Winter irgendwie schon, aber …« Sie räusperte sich. »Ach, Seth ist eine gute Wahl. Ex-Marine, lustiger Typ. Wirft die eine Sorte Mensch mit einem Lächeln aus der Bahn, die andere mit einem gezielten Schlag ins Gesicht, wenn nötig. Und er kann mit Waffen umgehen wie kein anderer. Du wirst ihn lieben.«
»Wunderbar«, sagte Connor in geschäftsmäßigem Tonfall. »Dann wäre das doch geklärt. Ich rufe noch mal an wegen der Einzelheiten. Aber ich schätze, sie kommt innerhalb der nächsten Woche.«
Mit offenem Mund starrte sie ihn an. »Aber …«
»Wir freuen uns auf dich, Vanna«, unterbrach Allie sie. »Eden Bay ist wirklich … Seth, zieh dich sofort wieder an! Was haben wir dir zu Nacktheit am Arbeitsplatz gesagt? Meine Güte. Immer dasselbe. Okay, ich muss gehen. Gib gern meine Telefonnummer weiter, Connor! Bis dann.« Sie legte auf.
Stöhnend warf Vanna den Kopf in den Nacken. Klasse. Ein exhibitionistischer Schwimmlehrer würde dafür sorgen, dass niemand sie umbrachte. Das klang vertrauenswürdig.
»Mach dir keine Sorgen. Seth ist gut ausgebildet«, erklärte ihr Connor, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Wirklich. Und in Maine ist es wunderschön.«
»Und kalt!«, sagte sie scharf.
Er grinste. »Ja, das auch. Hey, vielleicht verbringst du dort ja tatsächlich eine weiße Weihnacht. Wahrscheinlich flieg ich auch hoch, also …«
»Ich muss bis Weihnachten dortbleiben?«, rief sie ungläubig. »Nein, ganz sicher nicht. Ich bleib höchstens drei Wochen und werde vor Weihnachten wieder abhauen.« Vielleicht nach Texas zu ihrer Mutter.
Doch die Feiertage waren seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr dieselben und ihre Mutter fragte sie immer nur nach ihrer Karriere aus, als könnte sie all diese Infos nicht auch aus dem Internet bekommen …
»Ich werde sehen«, sagte sie zögerlich und stand auf. »Sagst du mir Bescheid, sobald Keanu unterschrieben hat?« Sie nickte zu den Scheidungspapieren. »Dann weiß ich, wann ich eine Flasche Champagner öffnen kann.«
»Jup«, meinte er und nickte. »Und Vanna: Lass dich nicht unterkriegen. Genieß doch einfach die Auszeit.«
»Mhm«, machte sie nur und hob die Hand, bevor sie aus dem Büro spazierte und unterdessen ihrem Agenten eine schnelle Nachricht mit den neuen Infos sandte. Seine Antwort folgte innerhalb weniger Sekunden.
Klingt doch gut. Du kannst eine Pause gebrauchen und so Energie und Ideen fürs neue Album sammeln!
Sofort zog sich ihr Zwerchfell schmerzhaft zusammen. Sie hatte seit fast einem Jahr nicht einmal mehr ihre Gitarre in der Hand gehabt, geschweige denn irgendwelche brauchbaren Ideen aufgeschrieben. Sie würde nicht sagen, dass sie eine Blockade hatte – aber auch nur, weil es zu real wäre, sobald sie das Wort aussprach. Trotzdem bekam sie jedes Mal eine kleine Panikattacke, wenn sie nur daran dachte, einen neuen Song zu schreiben.
Aber darum würde sie sich nach Weihnachten sorgen. Zumindest die nächsten drei Wochen würde sie all ihre Probleme ignorieren und … Urlaub machen.
Unter strenger Aufsicht ihres neuen Bodyguards.
Sie rieb sich übers Gesicht und atmete tief aus. Vielleicht war es wirklich gut, den Staat zu verlassen. Neuer Ort, neue Gesichter. Dieser Seth hatte sich doch auch ganz nett angehört. Und ihm schien es egal gewesen zu sein, wen er da beschützte. Das sah sie als ein gutes Zeichen. Sicher würde er vollkommen gelassen mit der Situation umgehen und ihre Privatsphäre wertzuschätzen wissen … jap. Alles würde gut werden.
Oh, I want you, I need you … you are my sunshine … you are my love!
- Seth Harrison aus der Reihe »Dinge, die ich singe, wenn ich den Shoppingkanal gucke und ein neues Küchengerät sehe.«
»Vanna Rey? Du hast von Vanna Rey geredet? Shit! Ich steh auf Vanna Rey.« Seth fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und stellte sich vor, wie sein zwanzigjähriges Ich jetzt aufgeregt auf- und abgesprungen wäre. Ach was, er musste sich immer noch zurückhalten! Denn verdammt, Vanna Rey war eine der interessantesten Personen, die Hollywood zu bieten hatte! Und heiß. »Mann, ich hab so viele Fragen an sie! Schreibt sie zuerst die Melodie oder den Text? Ist es anstrengend, die ganze Zeit lächeln zu müssen? Wollte sie überhaupt berühmt werden oder war das ein Versehen? Wie bereitet sie sich auf ein Konzert vor? Oh mein Gott, ich werde herausfinden, wie sie ihren Kaffee trinkt …«
»Sie will vor einem Stalker weglaufen, keinen neuen bekommen, Seth«, erinnerte Allie ihn warnend und pikste ihm mit dem Zeigefinger in die Brust.
Er lachte, trat einen Schritt zurück und fuhr damit fort, die Schwimmwesten im Schrank zu verstauen. »Reg dich ab. Man darf ja wohl noch ein bisschen neugierig sein. Und ich stalke sie nicht – ich beschütze sie. Aber es spricht doch nichts dagegen, sie unterdessen mit meinen charmanten Fragen vor einem tragischen Tod aus Langeweile zu retten.«
»Gott, wahrscheinlich wird das auch noch funktionieren«, grummelte Shadow unzufrieden. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Metalltheke neben Seth und tat ab und zu so, als würde er helfen, indem er mit dem Fuß eine Schwimmweste in seine Richtung trat. »Wahrscheinlich wird er sie mit seinen dummen Sprüchen nicht nerven, sondern entzücken.« Er schüttelte den Kopf. »Manchmal fühle ich mich wie in einem schlechten Film. Alle finden Seth freundlich und so aufmerksam. Ernsthaft. Wenn ich in einer weiteren Yelp-Rezension lese, dass der lebensfrohe Guide der Waterboys ein herzensguter, charmanter und liebevoller Gentleman ist, der das Leben und die Freizeit eines jeden bereichert, schlage ich ein Loch in die Wand.«
Allie verdrehte die Augen. »Du bist nur beleidigt, weil du auf Yelp nur als der düstere, gruselige Typ, der sich mit Equipment auskennt bekannt bist. Du solltest froh sein, dass ihr Seth habt.«
»Männer sind nicht beleidigt. Männer sind ungehalten«, korrigierte Shadow sie düster und gab einen seiner überzeugendsten gruseligen Blicke zum Besten.
Doch Allie schlief mit ihm und lachte deswegen nur unbeeindruckt, während Seth ein Jahrzehnt lang mit Shadow gedient und sich das Leben von ihm hatte retten lassen. Wie sollte man Angst vor seinem Schutzengel haben?
Also tätschelte er nur freundschaftlich Shadows Schulter und grinste breit. »Ich kann dir gern ein paar Tipps und Tricks für den Umgang mit Menschen geben, Shadow. Gar kein Problem. Für nur 399 Dollar gebe ich ein Wochenendseminar.«
»Apropos Umgang mit Menschen«, schritt Allie hastig ein, bevor Shadow etwas sicherlich sehr Unfreundliches sagen konnte. »Seth, du wirst sie wie einen vollkommen normalen Menschen behandeln, richtig?« Ihr Blick war berechnend und warnend zugleich. »Ich hab dich empfohlen. Mein guter Ruf hängt davon ab.«
Er winkte ab. »Klar.«
Wenn er eines gut konnte, dann Smalltalk mit Menschen führen und ihnen das Gefühl geben, vollkommen wunderbar, aber gleichzeitig normal zu sein.
Seth war nicht arrogant. Ja, er trainierte recht viel – kein Sex, kein Schlaf, was sollte er anderes tun? – und war wohl etwas fitter als die meisten, aber das war es auch. Unterm Strich war er einfach nichts Besonderes. Er gab sich zwar Mühe, ein guter Mensch zu sein, könnte seiner Meinung nach aber öfter einen besseren Job darin machen.
Das Einzige, was möglicherweise etwas außergewöhnlich an ihm war, war die Tatsache, dass Leute ihn mochten. Tiere auch. Eigentlich schlichtweg alle Lebewesen mit Herzschlag.
Es war einfach so. Punkt. Schon immer gewesen, seit er denken konnte. Daran hatte er sich gewöhnt und … ja, darauf verließ er sich mittlerweile vielleicht ein bisschen. Denn das gesellschaftliche Leben war leichter, wenn alle einen mochten, und es war ein hübscher Ausgleich zu seinem katastrophalen Privatleben. Er machte sich also keine Gedanken über die nächsten Wochen. Er würde eine coole, entspannte Zeit mit Vanna Rey haben und es genießen, den Dezember über nicht allein zu sein. Seit er seine besten Freunde Jon und Shadow als Mitbewohner verloren hatte, waren die Abende nämlich oftmals etwas einsam.
Andere schienen jedoch nicht so sorglos wie er.
»Wo wird sie eigentlich schlafen?«, wollte Shadow stirnrunzelnd wissen. »Seit du im Cottage oben beim Leuchtturm wohnst, hast du kein zweites Schlafzimmer mehr, wenn ich mich recht entsinne.«
Er zuckte die Achseln. »Ich schätze in meinem Bett … ohne mich«, ergänzte er augenverdrehend, als er Allies interessierten Blick bemerkte. Er hatte sich vorgenommen, erst wieder mit einer Frau in die Kiste zu steigen, wenn er vernünftig allein dort drin schlafen konnte. Bis jetzt war das noch nicht passiert, seine Durststrecke hielt also an.
Abgesehen davon: Sie war fucking Vanna Rey! Sie schlief mit Rockstars und Models und Schauspielern, nicht mit posttraumatischen Ex-Soldaten, die ein Unternehmen für Wasseraktivitäten aller Art führten.
»Okaaay«, sagte Shadow gedehnt. »Aber wo pennst du dann?«
»Auf der Couch.«
Ob er jetzt im Bett oder auf dem Sofa nicht schlief, war vollkommen irrelevant. Das dürfte also kein Problem sein.
»Redet ihr über Vanna Rey?«, mischte sich eine neue Stimme ein und Jon betrat mit Wintermantel, Mütze und Schal den Lagerraum. Der Dezember in Maine war unbarmherzig, wenn man ihm nicht mit der richtigen Ausrüstung begegnete. »Ich habe sie gerade gegoogelt und heilige Scheiße, die arme Frau hat überhaupt keine Privatsphäre, oder? Die Fotos, die von ihr im Netz kursieren, reichen von Bildern aus ihrem persönlichen Schlafzimmer über sie halbnackt am Pool bis zu Schnappschüssen, die sie weinend im Kino zeigen. Haben Paparazzi denn überhaupt keinen Respekt mehr?«
»Nein. Papparazzi sind allesamt Arschlöcher«, informierte Allie ihn sachlich.
Ach ja. Sie hatte selbst vor einem Jahr noch Probleme mit einem Journalisten gehabt, erinnerte sich Seth. Na ja, das hier war Eden Bay. Alle würden darüber dichthalten, dass für kurze Zeit ein Popstar bei ihnen wohnte, wenn man sie nur darum bat. Aber Moment, etwas störte ihn.
»Du wusstest auch schon, dass es um Vanna Rey geht?«, fragte er stirnrunzelnd. »Warum bin ich der Letzte, der erfährt, auf wen ich ab morgen aufpasse?«
Jon zuckte die Achseln. »Mallory hat mir davon erzählt, sie hat es von Connor. Und kannst du trotzdem noch all meine Kurse übernehmen? Mit der geplanten Hochzeit und Rosie ist es bei mir echt stressig und …«
Seth winkte ab. »Jaja, kein Ding. Das krieg ich schon hin.« Je mehr er zu tun hatte, desto besser. »Genieß du mal deinen Vaterschaftsurlaub.«
»Danke«, sagte Jon erleichtert, gähnte herzhaft und rieb sich übers Gesicht. »Gott, ihr habt keine Ahnung, wie es ist, mit vier Stunden Schlaf die Nacht auskommen zu müssen.«
Oh, doch. Seth hatte eine ungefähre Vorstellung davon.
»Aber egal, ich bin eigentlich nur hier, um mir eine Leiter zu leihen. Wir haben hier irgendwo eine, oder, Shadow? Alec babysittet heute für ein paar Stunden und Mall hat ja ihren Mädels-Cocktailabend. Die Zeit wollte ich nutzen, um schon mal die Weihnachtslichter aufzuhängen. Bevor Mall auf die Idee kommt, es selbst zu machen, wahrscheinlich noch mit Rosie auf dem Rücken.«
»Es ist ein Mocktailabend, Jon«, unterrichtete Allie ihn geduldig. »Und die Leiter steht draußen.«
»Mocktail?«, echote Jon. »Was zur Hölle ist ein Mocktail?«
»Ein Cocktail ohne Alkohol. Für die Frauen, die stillen, und mich«, erklärte Allie. »Da wir gerade darüber reden. Seth, kommst du auch? Sky meinte, du hättest ihr noch nicht geantwortet.«
»Jup«, sagte er lächelnd. »Ich besorg gleich noch Kuchen dafür.«
Allie seufzte verträumt auf. »Mann, Seth. Du weißt einfach, was Frauen wollen.«
»Moment. Du gehst zum Mädelsabend?«, fragte Shadow mit gehobenen Brauen.
Hallo? Es gab bunte Drinks, Tratsch und vermutlich einen Weihnachtsfilm. Was sollte er daran nicht lieben? »Klar«, erwiderte er leichthin.
»Hey, wieso ladet ihr Seth ein, aber fragt mich nie?«, beschwerte sich Jon.
»Weil Seth sehr viel lustiger ist als du«, antwortete Allie ernst.
»Es ist die Wahrheit«, sagte Seth bescheiden und legte sich eine Hand auf die Brust.
»Und weil du ein neues Baby hast und zurzeit sehr gestresst bist«, ergänzte Shadow.
»Ach ja«, stimmte Allie zu. »Das auch. Abgesehen davon würden wir uns mit dir nicht wohlfühlen, Jon. Seth ist einfach etwas … zugänglicher als du.«
Ja, das war noch so eine Sache, die ihn vielleicht doch zu etwas Besonderem machte. Er war schon immer gut mit Frauen zurechtgekommen. Mütter, Großmütter, Schwägerinnen, Schulkameradinnen, Soldatinnen. Egal wer, egal wo. Egal welche Nationalität oder sexuelle Orientierung.
Er gab seinen drei Schwestern und seiner Mutter die Schuld, die ihm von klein auf eingebläut hatten, dass es nichts Wichtigeres gab, als alle Menschen gleich zu behandeln, egal welches Geschlecht, welchen Job, welche Hautfarbe oder wie viel Geld sie hatten – und nach diesem Motto hatte er stets gelebt. In seiner Welt hatte jeder immer der Kumpel von jedem sein können.
In der Folge war Seth der beste Freund von so vielen Frauen, dass er aufgehört hatte zu zählen. Er liebte sie alle und sie liebten ihn alle … doch mit keiner von ihnen wollte er schlafen. All seine Beziehungen zu diesen Frauen waren genauso platonisch wie die zu seinen Küchengeräten. Vielleicht sogar noch einen Ticken platonischer. Und das mochte er. Man konnte nie genug Freunde haben. Aber manchmal war es auch verdammt ätzend, direkt in die Freundesschublade gepackt zu werden. Es bedeutete nämlich ebenfalls, dass er in seinem gesamten Leben nur eine einzige Freundin gehabt hatte.
Egal. Sorgen für einen anderen Tag.
»Na schön, das war es dann für heute, oder?«, riss Allie ihn aus den Gedanken. »Ich würde dann nämlich gehen, muss noch Saft und anderes Zeug für gleich einkaufen.«
Sie nickten allesamt.
Zufrieden stellte Allie sich auf die Zehen, um Shadow einen flüchtigen Kuss zu geben, dann klopfte sie Jon auf die Schulter und verabschiedete sich mit einem »Bis gleich!«, von Seth. Eine Minute später war sie aus der Tür.
»So«, nutzte Jon die Gunst der Stunde und trat näher zu Seth, bevor er im Plauderton meinte: »Vanna Rey. Sie wohnt also die nächsten Wochen bei dir.«
Seth grinste. »Jup.« Mann, ausgesprochen hörte sich das noch besser an als in seinen Gedanken!
»Und das ist okay für dich?«, hakte Jon weiter nach.
»Ich hätte nicht zugesagt, wenn es anders wäre.«
»Na ja, Seth, du sagst immer zu«, bemerkte Shadow. »Manchmal, ohne nachzudenken.«
Er schnaubte. »Da stimmt man einmal zu, nackt für einen Kalender zu posieren, und schon wird einem das vorgehalten.«
»Du hast für uns alle zugestimmt!«, erinnerte Shadow ihn düster.
»Ja. Und die Fotos sind toll geworden.« Sie hatten eine Menge alte Damen damit glücklich gemacht. Was war also schon dabei?
»Was Shadow sagen will«, klinkte sich Jon ein. »Dir ging es in den letzten Wochen nicht sonderlich gut, Seth. Der Autounfall. Die vielen zerbrochenen Becher. Deine Krawatte, die sich im Entsafter verfangen hat. Die Sache mit dem Bootsausflug …«
»Man sollte eben keinen Anzug in der Nähe von schweren Maschinen tragen und ich habe meinen Weg zurück zum Hafen gefunden, oder?«, meinte er verärgert.
»Drei Stunden später als geplant«, knirschte Shadow.
Ja, er hatte für zwei Stunden verlernt, wie man die Karten richtig las. Gott, er war so verdammt müde gewesen und es war dunkel geworden, was ihn in letzter Zeit, seit es kälter wurde, immer etwas nervös machte … Ach, vollkommen irrelevant! Am Ende war alles gut gewesen.
Es war das Alleinwohnen, das ihn wieder in alte Muster hatte zurückfallen lassen. Er gab es ungern zu, doch das Wissen, dass Jon und Carter nur eine Zimmerwand entfernt geschlafen hatten, hatte ihn immer … beruhigt. Doch er würde den Teufel tun, seinen besten Freunden das zu sagen. Nachher bestanden sie noch darauf, wieder bei ihm einzuziehen, bis es ihm besser ging. Dabei waren die beiden endlich glücklich und verliebt und so unfassbar zufrieden, dass Seth das Kotzen bekam, wenn er daran dachte. Aber sie hatten ein wenig Glück verdient und das würde er ihnen nicht kaputtmachen.
Insgesamt war er ohnehin auf einem guten Weg, fand er. Er hatte sich vollends an das Leben außerhalb der Army gewöhnt und in Eden Bay ein Zuhause gefunden. Nur das Schlafen musste er noch in den Griff kriegen. Der Rest würde sich von selbst erledigen. Erst schlafen, dann anfangen richtig zu leben. Das war die Devise.
»Leute, ihr wisst, dass es sehr schwierig ist, mich zu nerven, oder?«, sagte er im Plauderton und verschränkte die Hände hinterm Rücken. »Ich bin schließlich der Sonnenschein dieser Gruppe. Aber ihr fangt gerade ernsthaft damit an, mir auf den Senkel zu gehen, also hört auf zu reden.«
»Seth, wir sagen das nicht, um dich anzupissen«, stellte Jon klar und hob abwehrend die Hände. »Aber du bist in den letzten Wochen sehr oft sehr fertig gewesen und diese zusätzliche Verantwortung jetzt … Wir wollen nur, dass du auf dich aufpasst.«
»Das ist sehr nett von euch«, sagte Seth nüchtern und sein Kiefer schmerzte, weil er sich Mühe gab, das Lächeln auf dem Gesicht zu behalten. »Aber das tue ich. Ihr müsst euch keine Gedanken machen.«
»Also geht es dir gut?«, fragte Jon leise und betrachtete ihn eindringlich.
»Jup.«
»Wirklichgut?«, hakte Shadow nach.
Er seufzte schwer. Sie würden nicht aufhören, ihn zu nerven, bevor er nicht mit ein paar Einzelheiten rausrückte. »Es ist alles okay. Schlafen geht in Ordnung.«
Das war eine eiskalte Lüge, aber er hatte bereits einen Therapeuten gehabt, da brauchte er nicht noch zwei neue.
Er hatte damit gerechnet, dass es erst mal schlechter werden würde, nachdem er ins Cottage gezogen war. Neue Wohnung, neue Lebensumstände und dann noch die Wintermonate. Die waren bei ihm immer schlechter als die Sommermonate. Die Dunkelheit. Die Kälte. Sie traten Erinnerungen los und zogen an den Narben an seiner Brust und Schulter. Und mit weniger Trubel in seiner Wohnung, um sich abzulenken … war es nun einmal schwierig. Aber das war nur ein Grund mehr, sich darauf zu freuen, bald einen Popstar bei sich wohnen zu haben! Vanna Rey würde die nächsten Wochen etwas aufregender gestalten. Ihn davon abhalten, zu viel nachzudenken und seine gute Laune einzubüßen. Denn er mochte fast sein Leben verloren haben, aber verdammt, seine gute Laune würde nicht zum Kollateralschaden werden! Bis auf die paar dunklen Jahre nach dem Vorfall war er schon immer der Meinung gewesen, dass man sich das Leben nicht durch negative Energie erschweren sollte. Also würde er sich seine Positivität nicht kaputtmachen lassen.
»Glaubst du denn, du kannst aufmerksam genug bleiben, um einen guten Bodyguard abzugeben?«, wollte Jon wissen.
Shit, diese Aussage erschwerte das mit der guten Laune natürlich.
Es gab drei Dinge, auf die Seth sich immer verlassen konnte: Seine Reflexe, seine zwei besten Freunde und die Tatsache, dass Frauen ihn sympathisch fanden. Warum brachte Jon Punkt zwei ins Wanken?
»Leute. Ich kann selbst betrunken und übermüdet noch besser schießen als ihr, also macht euch mal keine Sorgen.«
»Aber …«
»Ich hätte den Job nicht angenommen, wenn ich glauben würde, dass ich ihn nicht machen kann!«, fuhr er Shadow lauter als gewollt dazwischen. »Also hört zur Hölle auf damit, so dämliche Fragen zu stellen, und kümmert euch um euren eigenen Kram.« Ruckartig wandte er ihnen den Rücken zu und ging langen Schrittes in den angrenzenden Rezeptionsbereich.
Gott, war das ihr beschissener Ernst? Zweifelten sie jetzt auch noch an seiner Kompetenz? Sie waren es alle gewöhnt, in stressigen Situationen und mit zu wenig Schlaf trotzdem hundert Prozent zu geben. Ein wenig Vertrauen wäre nett!
Er ließ die Rezeption links liegen, verschwand in das dahinterliegende Büro und schloss die Tür hinter sich ab. Dann lehnte er sich in dem Stuhl zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und zog sein Handy aus der Tasche.
Google spuckte ihm über sechshundert Millionen Ergebnisse für Vanna Rey aus. Mindestens fünfzig Prozent davon waren Hassnachrichten, weil sie sich von Amerikas Sweetheart scheiden ließ. Shit, er musste ganz schön lange scrollen, bis er irgendeine Seite fand, die etwas Gutes über sie zu sagen hatte, und der besagte Eintrag lag ein Jahr zurück.
Die Bildersuche war nicht viel schöner. Er fand praktisch nur Fotos von ihr mit Keanu Crane, durch deren Mitte sich hässliche Risse zogen.
Seth fuhr sich durch die Haare. Mann, Mann, Mann. Es sah aus, als läge eine beschissene Zeit hinter ihr. Damit konnte Seth sich identifizieren, denn das hatten sie gemeinsam. Hey, vielleicht konnten sie sich über diese Tatsache ja anfreunden.
Zufrieden steckte er das Handy weg und schloss die Augen. Er würde versuchen, einen kurzen Nachmittagsschlaf einzulegen, um sich auf die Mocktailparty und Vannas Ankunft morgen Abend vorzubereiten.
Er kannte Vanna Rey nicht, aber trotzdem freute er sich irgendwie auf sie. Nicht, weil sie ein Popstar und unfassbar interessant war, sondern einfach, weil es weniger einsam mit ihr im Cottage sein würde. Lebendiger. Und lebendig war gut. Lebendig war … ja. Es war gut.
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