Kapitel 1
Hannah Reed starrte durch den Spion auf den halbnackten Mann vor ihrer Tür und fragte sich, ob es leichtsinnig wäre, ihm aufzumachen.
Ihre Mutter und ihr Vater hatten ihr beigebracht, Menschen nicht nach dem ersten Eindruck zu beurteilen und ihnen die Chance zu geben, sie positiv zu überraschen. Andererseits hatten sie ihr auch beigebracht, niemand Fremdes die Tür zu öffnen. Die Frage war natürlich, ob sie mit neunundzwanzig Jahren noch darüber nachdenken sollte, was ihre Eltern ihr in einer solchen Situation raten würden.
Sie biss sich auf die Unterlippe, verengte die Augen und ließ den Blick über die Erscheinung des Fremden gleiten. Von Natur aus war sie eher der vorsichtige Typ … doch der Mann sah eigentlich nicht gefährlich aus. Eher entnervt. Er starrte direkt in den Spion, die Lippen zusammengepresst, die Hand in den schwarzen Haaren und die Brauen über den eisblauen Augen zusammengezogen. So, als wisse er, dass sie ihn ansah.
Er würde wohl keine Waffe dabeihaben, dafür war er schlichtweg … nun, zu nackt. Aber er sah ziemlich muskulös aus und ihr Work-out bestand lediglich aus ein wenig Hanteltraining und ausgedehnten Spaziergängen zur nächsten Bäckerei. Die Chance, dass er sie mit wenigen Handgriffen überwältigen konnte, war also sehr hoch.
„Hallo?“ Der Typ klopfte erneut mit der Faust gegen das Holz. „Ich weiß, dass Sie da stehen und mich anglotzen. Sie könnten meinen Körper viel ausgiebiger bewundern, wenn Sie die Tür aufmachen, wissen Sie?“
Hannah schnaubte laut. Wenn sie das Bedürfnis hätte, gut trainierte, eingebildete Kerle anzusehen, würde sie einfach ins Fitnessstudio gehen und vor den Spiegeln herumlungern! Dafür brauchte sie keinen Türspion.
„Kommen Sie schon, ich brauche Hilfe! Ich will nicht nackt zur Rezeption laufen, nachher macht jemand ein Video und ich lande auf YouTube.“
Hm. Hilfe. Er brauchte Hilfe.
Sie war Ärztin, darauf getrimmt, anderen Menschen zu helfen … aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihr hippokratischer Eid diese Situation nicht abdeckte.
Unsicher zog sie die Schultern hoch. „Was wollen Sie?“, fragte sie durch die geschlossene Tür hindurch.
Der Mann lachte trocken auf, machte einen Schritt zurück und deutete an seinem lächerlich trainierten nackten Oberkörper hinab. „Ein wenig Bronzepuder, damit meine Haut schöner strahlt“, meinte er trocken.
Ihre Mundwinkel zuckten. „Dafür ist Ihre Haut zu hell, ich würde Ihnen einen Goldton empfehlen“, sprang sie hilfreich ein.
Düster starrte der Kerl wieder in den Spion. „Ich will etwas zum Anziehen, damit ich zur Rezeption runtergehen und mir eine neue Schlüsselkarte holen kann.“
„Wo ist Ihre alte Schlüsselkarte?“
„In meiner Hose.“
„Wo ist Ihre Hose?“
„Da, wo auch mein T‑Shirt und meine Schuhe sind.“
„Aha. Das ist sehr umsichtig von Ihnen, sie zusammen zurückzulassen. Dann fühlen sie sich nicht einsam.“
Der fremde Mann stieß einen Schwall Luft aus und verschränkte die Hände im Nacken. Das gedämpfte Licht des Hotelflurs brachte seinen Bizeps zum Leuchten und seine Bauchmuskeln zum Tanzen. Meine Güte, vielleicht brauchte er gar keine Hilfe. Vielleicht lief er hier nur halbnackt rum, um ein wenig anzugeben.
„Sie sind ein richtiger Spaßvogel, oder?“, fragte er schließlich verkniffen.
Hannah hob die Schultern, auch wenn er das natürlich nicht sehen konnte. Sie war nicht dafür bekannt, witzig zu sein. Sie war dafür bekannt, pünktlich und verlässlich, vorsichtig und gut vorbereitet zu sein. Früher war sie relativ schlagfertig gewesen – hatte es sein müssen, um ihrem Bruder eine würdige Gegnerin zu sein –, aber in den letzten Monaten? Nicht so sehr.
Andererseits war der einzige Grund, warum sie sich in diesem Hotel befand, dass sie zu ihrer alten, beziehungsweise einer besseren Form zurückfand. Dieses absurde Zusammentreffen mit dem Unterwäschemodel war also ein guter Start.
„Wenn ich ein Spaßvogel wäre, würde ich fragen, warum Sie es nicht durchgezogen und Ihre Boxershorts auch beim Rest gelassen haben. Sie fühlt sich doch sicherlich ausgeschlossen. Außerdem: Wie früh müssen Sie jeden Morgen aufstehen, um Ihre Bauchmuskeln aufzumalen?“
Der Mann seufzte so schwer, dass Hannah augenblicklich Mitleid mit ihm bekam. Er wirkte erschöpft und fror bestimmt. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren, so als wolle das Hotel baldmöglichst eine Eisbahn in den Fluren eröffnen.
Also legte sie vorsichtig die Kette vor, bevor sie die Tür öffnete, sodass sie den fremden Mann durch den Spalt ansehen konnte. Jetzt, da sein Gesicht nicht mehr absurd vergrößert und verzogen war, bemerkte sie, dass er ihr merkwürdig bekannt vorkam. Als hätte sie ihn schon mal auf der Straße oder auf irgendeinem Werbeplakat gesehen. Vielleicht war er wirklich Unterwäschemodel. Oder aber er ging einer viel älteren Profession nach …
„Hey“, sagte sie und lächelte knapp. „Tut mir leid, ich habe noch nicht ausgeschlossen, dass Sie ein Vergewaltiger sind, deswegen die Kette.“
Der Schwarzhaarige rieb sich über die Stirn und nickte. „Verständlich. Ich würde einem halbnackten Mann vor meiner Tür auch eher skeptisch gegenüberstehen. Ich nehme es Ihnen nicht übel.“
„Wundervoll. Jetzt zu wichtigeren Dingen: Sind Sie ein Gigolo?“ Interessiert legte sie den Kopf schief. Davon hatte sie nämlich noch nie einen persönlich kennengelernt, und Owen wäre entzückt darüber, wenn seine blöde Liste sie direkt in die Arme eines Callboys geführt hätte.
„Nein, ich bin lediglich ein Arschloch …“, erwiderte ihr Gegenüber trocken. „Also, können Sie mir jetzt helfen?“
„Sie sehen nicht aus wie ein Arschloch“, stellte sie überrascht fest.
„Der Eindruck täuscht. Fragen Sie die Frau in Zimmer 203, die wird Ihnen das bestätigen.“
„Ah.“ Sie nickte, auch wenn sie kein Wort verstand. „Darf ich Ihnen noch eine Frage stellen?“
Unangenehm berührt sah er den leeren Flur auf und ab, dann nickte er. „Wenn es sein muss.“
„Warum sind Sie halbnackt?“
Er lachte verlegen auf und kratzte sich am Hinterkopf. „Wissen Sie, das hängt sehr eng mit der Frage zusammen, warum ich ein Arschloch bin, und ist ein eher wundes Thema.“
„Na schön“, sagte sie fröhlich und machte Anstalten, die Tür zu schließen.
„Okay, okay“, sagte er verärgert und hob die Hände.
Hannah konnte nicht umhin, ihn dafür zu bewundern, wie wohl er sich in seinem Körper fühlte. Sie würde nicht in Unterwäsche auf einem Hotelflur stehen und bereitwillig die Hände heben. Eher würde sie ein Stück Teppich aus dem Boden reißen, um sich darin einzuwickeln.
Der Mann seufzte erneut, schließlich meinte er: „Kennen Sie Den nackten Mann?“
„Den nackten Mann?“, fragte sie verwirrt. „Gibt es da einen bestimmten, den ich kennen sollte?“
„Nein, ich spreche von dieser Folge von How I Met Your Mother.“
Sie runzelte die Stirn. „Das ist irgendeine Sitcom, oder?“
Ungläubig sah der Schwarzhaarige sie an. Als wäre sie es, die sich exzentrisch kleidete und nicht er. „Ja, das ist eine Sitcom. Wie können Sie die nicht kennen?“
Nun, Film und Fernsehen – oder andere spaßige Sachen – hatten nie weit oben auf ihrer Prioritätenliste gestanden. Sie war zu beschäftigt damit gewesen, zu lernen und ihren Zehnjahresplan einzuhalten.
Aber das war die alte Hannah gewesen. Vielleicht sollte sie also mal damit anfangen, mehr Comedy-Serien zu schauen. Offenbar gehörte das zu einem lebenswerten Leben dazu. „Wie können Sie mir solch sinnlose Fragen stellen, während Sie fast nackt vor mir stehen?“, wollte sie wissen.
Er nickte. „Das ist ein guter Punkt. Na ja, auf jeden Fall ist Der nackte Mann ein Weg, wie man ein schlecht laufendes Date dennoch erfolgreich beenden kann.“
„Erfolgreich beenden …?“
„Mit Sex“, erklärte er schlicht. „Man zieht sich aus, während die Frau sich im Bad frisch macht oder in der Küche einen Drink mixt, und wenn sie zurückkommt, schläft sie mit einem.“
„Nur, weil man nackt ist?“
„Exakt. Sie findet es witzig oder sexy oder was auch immer und erbarmt sich einem. Ich habe letzte Woche mit meinem Bruder gewettet, ob das wirklich funktioniert, und …“ Er brach ab. Doch eigentlich musste er auch gar nicht weitersprechen, Hannah hatte schon verstanden.
Sie lachte laut und schüttelte den Kopf. Langsam kam sie dahinter, warum er ein Arschloch war. „Und? Hat es funktioniert?“
Sein Blick verdüsterte sich. „Sehe ich so aus?“
Wieder lachte sie, diesmal noch lauter, und sie musste feststellen, dass es verdammt guttat. In den letzten Monaten hatte es nicht viele Situationen gegeben, in denen sie hatte lachen wollen, und dieser bestimmte Moment fühlte sich freier und lebendiger an als die hunderttausend trostlosen der letzten Wochen. „Soll ich ein Foto für Ihren Bruder machen?“, bot sie an. „Der würde sich doch sicher darüber freuen.“
„Ja, Cal würde sich nicht mehr einkriegen. Vorausgesetzt er schafft es, lang genug von seinem PC aufzusehen. Aber nein danke. Ich verzichte. Können wir noch mal auf Ihre potenzielle Hilfe zurückkommen?“
„Ich weiß nicht, ich bin immer noch sehr an dieser Nackten-Mann-Geschichte interessiert … Um was haben Sie gewettet?“ Außerdem hätte sie gerne gewusst, ob sein Date blind gewesen war oder einfach nur extrem hohe moralische Anforderungen an sich selbst hatte.
„Darum, wer unserer Schwester den nächsten Gefallen schuldet … und Sie lenken schon wieder vom Thema ab! Also: Können Sie mir was zum Anziehen geben?“
Grinsend nickte Hannah. „Moment.“ Sie schloss die Tür, entfernte die Kette und öffnete sie wieder. Der Mann war offensichtlich harmlos, solange man nicht mit ihm auf ein schlechtes Date ging. „Ich kann Ihnen ein Nachthemd geben.“
Er zog eine Grimasse. „Haben Sie nicht etwas Männlicheres?“ Vorsichtig lugte er in ihr Zimmer hinein, so als hoffte er, eine abgewetzte Jeans und eine testosterongeladene Lederjacke auf ihrem Bett liegen zu sehen. Doch da befanden sich nur ihre Handtasche, ihre sorgfältig zusammengefaltete Kleidung für den nächsten Tag und eine Flasche Whiskey, die sie wahrscheinlich noch heute Abend, spätestens aber morgen früh brauchen würde.
„Doch, schon. Ich hätte auch eine Jogginghose und ein T‑Shirt. Aber ich glaube, die haben Sie nicht verdient.“ Vielsagend hob sie die Augenbrauen. „Männer, die sich ungefragt nackt vor Frauen ausziehen und dann erwarten, dass diese mit ihnen schlafen, sollten bis auf die Knochen blamiert werden – finden Sie nicht?“
Eine Weile lang betrachtete er sie nachdenklich, schließlich wollte er mit verengten Augen wissen: „Das ist eine Fangfrage, oder?“
Wieder lachte sie. „Auf jeden Fall. Wie heißen Sie überhaupt?“
„Cooper, also … Coop“, meinte er. Auch seine Mundwinkel hoben sich, sodass ein Grübchen in seiner rechten Wange erschien, als er ihr die Hand reichte. Seine Finger waren warm und groß und die Haare in Hannahs Nacken stellten sich auf, als sie ihre Hand umfassten. Unwillkürlich fragte sie sich, was sie getan hätte, wenn sie die Frau gewesen wäre, vor der er sich ausgezogen hätte.
Ach, wem machte sie etwas vor. Wahrscheinlich wäre sie in Ohnmacht gefallen und hätte gehofft, dass er verschwunden war, bevor sie wieder aufwachte.
„Freut mich, Coop. Ich bin Hannah.“ Nachdenklich neigte sie den Kopf. „Sagen Sie, kennen wir uns? Sie kommen mir so bekannt vor.“
Hastig wandte Coop den Blick ab. „Nein, wir kennen uns nicht. Ich habe nur ein sehr gewöhnliches Gesicht.“
Also bitte, sein Gesicht war alles andere als gewöhnlich! Ein dunkler Bartschatten zierte seinen scharf geschnittenen Kiefer, die eisblauen Augen würde sie unter hunderten wiedererkennen und sein Körper … nun, darüber wollte sie nicht weiter nachdenken, denn möglicherweise fing sie dann an zu starren. Sie kannte solche Muskeln eigentlich nur aus Werbefilmen oder ihren Träumen.
Ihr Gegenüber räusperte sich. „Wie war das jetzt noch mit dem Nachthemd?“
„Ach so, klar.“ Verwirrt blinzelte sie ihre Gedanken aus dem Kopf und wandte sich um. „Moment, ich hole es.“
Sie lief zu ihrem Koffer, dessen Inhalt sie nach Farbe und Gelegenheit sortiert hatte, und fand innerhalb weniger Sekunden, was sie suchte. Ein geblümtes Nachthemd aus Baumwolle, das ihre Mutter ihr vererbt hatte.
Als sie mit dem Kleidungsstück in den Händen zurückkehrte, sah Coop aus, als biete sie ihm zusammen mit dem Nachthemd auch einen Kokosnuss-BH und eine Mitgliedschaft bei Scientology an.
„Behalten Sie es“, sagte sie großzügig. „Ich habe das Gefühl, dass es Ihnen sehr viel besser stehen wird als mir.“
Er warf ihr einen ironischen Blick zu und seufzte. Doch anstelle es über den Kopf zu ziehen, schlang er es sich lediglich um die Hüften, sodass er nun aussah wie ein Surfer auf dem Weg zum Strand.
Unfair. So unfair.
„Das wird reichen müssen“, meinte er verdrießlich. „Vielleicht ist es im Foyer ja auch leer. Danke.“ Wieder lächelte er sie an. „Ich schulde Ihnen etwas.“
„Ach, kein Problem. Ich bin nackten Männern immer gern behilflich.“ Sie hob die Hand und winkte ihm hinterher.
Coop lachte trocken auf. „Das sollten Sie nicht zu laut sagen, nachher bildet sich eine Schlange vor Ihrer Tür“, rief er zurück und schritt weiter den Gang entlang.
Mit geöffneten Lippen sah Hannah ihm hinterher, bis er links, das Treppenhaus hinunter verschwand – er wollte es wohl nicht riskieren, den Aufzug zu nehmen – und außer Sichtweite war.
Kopfschüttelnd schloss sie die Tür. Die Geschichte würde ihr doch niemand glauben!
Aber nein, eigentlich stimmte das nicht. Owen hätte ihr geglaubt, denn ihm waren solche Dinge ständig passiert. Er hatte sich mit Menschen umgeben, die so frei und locker und ungebunden waren, dass witzige Geschichten scheinbar aus dem Nichts entstanden waren. Aber sie hatte nie zu diesen Menschen gehört, so sehr er auch versucht hatte, sie Teil von seinem haarsträubenden Leben werden zu lassen.
Ja, Owen hätte sie lediglich gefragt, warum sie den heißen Kerl nicht in ihr Zimmer eingeladen hatte, nackt war er doch ohnehin schon.
Das Lächeln wackelte auf ihrem Gesicht, blieb jedoch tapfer an Ort und Stelle. „Tut mir leid, Owen, soweit bin ich noch nicht“, murmelte sie. „Aber zumindest springe ich morgen für dich aus einem Flugzeug. Das ist doch schon mal was, oder?“
Sie hätte die Worte nicht laut aussprechen sollen, denn allein der Gedanke daran, ließ ihren Magen rumoren und ihr Herz flattern. Menschen waren nicht fürs Fliegen gemacht. Sie waren zum Laufen und Hinfallen gebaut, aber nicht dazu, durch die Lüfte zu schweben! Das sollte den Vögeln und Pollen vorbehalten bleiben.
Verdrießlich verzog sie das Gesicht, setzte sich aufs Bett und zog ihre Handtasche heran, in der sie die Liste aufbewahrte, die derzeit ihr Leben bestimmte.
Das karierte Stück Papier war schon so abgegriffen, dass Hannah täglich mit der Angst lebte, es könne zerfallen – und ihr somit auch noch das Letzte nehmen, was ihr von ihrem Bruder geblieben war. Doch bis jetzt hielt sie mit Hilfe von ein wenig Klebeband tapfer zusammen.
Nachdenklich musterte sie die Punkte, die Owen in seiner krakeligen Handschrift so unüberlegt dort festgehalten hatte, und ein leichtes Gefühl der Panik wallte in ihr auf, als sie sah, dass noch immer neun Aufgaben offen waren. Der Rest war mit Kugelschreiber durchgestrichen, doch diese letzten neun Punkte blitzten vorwurfsvoll zu ihr hinauf und erinnerten sie daran, dass sie sich beeilen musste. Dass ihr nur noch knapp fünf Wochen blieben, in denen sie ihr Versprechen einlösen konnte. In denen sie das Ruder herumreißen und das Schiff namens Leben in aufregendere Gewässer lenken konnte. Na ja, nicht aufregend, eher würdig. Ja, würdig war das passende Wort.
Sie schluckte den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter und stellte enttäuscht fest, dass das befreiende Lächeln auf ihrem Gesicht, das der fremde, heiße Kerl dort hingezaubert hatte, verschwunden war. Nun, der kurze Moment der Erleichterung hatte nicht ewig anhalten können.
Sie packte die Liste sorgfältig wieder weg und starrte dann auf den ordentlich zusammengefalteten Stapel an Kleidung neben ihr. Aus einem Impuls heraus streckte sie die Hand aus und brachte ihn mit einem gezielten Stoß völlig durcheinander. Die Jeans klappte auf, das T‑Shirt fiel zu Boden und das Paar Socken rollte zum Kissen.
Zehn Sekunden saß sie da und starrte den Stapel an – dann sprang sie hastig auf, bückte sich nach dem T‑Shirt, fing die Socken wieder ein und faltete die Kleidung erneut zusammen.
Wem machte sie etwas vor? Zerknitterte Kleidung würde niemandem helfen. Das war sicherlich nicht, was Owen gemeint hatte.
Ihr Handy klingelte, und erleichtert um die Ablenkung zog sie es aus ihrer Hosentasche.
„Dr. Reed“, meldete sie sich aus Gewohnheit, auch wenn sie seit drei Wochen niemanden mehr behandelt hatte und ihr Arbeitstelefon sicher verwahrt in ihrer Wohnung in Philadelphia lag.
„Na, Frau Doktor? Drehst du schon durch, weil du morgen aus zehntausend Meter Höhe in dein Verderben stürzen wirst?“
Hannah schnaubte und ließ sich rückwärts auf die weiche Matratze fallen. „Deine aufmunternden Worte waren auch schon mal überzeugender, Lara.“
„Ach, eine halbe Stunde mit Callum Panther in einem Raum und ich habe nur noch Mittelfinger und andere rüde Gesten übrig“, sagte ihre beste Freundin verdrießlich. „Sei also froh, dass wir nicht facetimen.“
Hannah lachte und rieb sich über die Stirn. „Ich würde diesen Callum ja wirklich gerne mal kennenlernen. Er scheint übermenschliche Kräfte zu haben, wenn er dich aus der Fassung bringen kann.“
„Er bringt mich nicht aus der Fassung“, widersprach Lara sofort. „Er … regt mich nur auf! Das ist alles.“
„Mhm. Interessant. Wenn ich mich recht entsinne, hat auf dem College mal ein Kerl nackt vor deinem Schlafsaal gelegen und dir auf die Türmatte gekotzt. Das hat dich nicht aufgeregt. Und dann war da noch die Telefonwarteschlange, in der du geschlagene acht Stunden verbracht hat – die hat dich ebenfalls nicht aufgeregt. Oder die Sache mit dem Goldfisch in deiner Toilette …“
„Das ist etwas vollkommen anderes. Wieso sollte ich mich darüber aufregen, dass ich eine tolle neue Anekdote zu meinem Katalog hinzufügen kann? Wieso sollte ich eine arme Angestellte anschreien, die nur ihren Job macht? Wieso sollte ich einen Goldfisch für seinen exzentrisch gewählten Lebensraum verurteilen? Ich bin doch kein Unmensch! Aber hier geht es um meinen Job – den mir Callum Panther unmöglich macht.“
„Ah.“ Natürlich. Lara war wirklich ein lockerer, entspannter Mensch – solange es nicht um ihre Arbeit ging. Sie hatte erst vor einem halben Jahr ihren Job angetreten und war seitdem so verbissen dabei, allen Mitarbeitern und vor allem ihrem Chef zu beweisen, dass sie kompetent war, dass sie ab und an vergaß, dass sie Schimpfwörter eigentlich gar nicht mochte und Mittelfinger ihrer Meinung nach nur dafür da waren, den Zeigefinger beim Scrollen zu unterstützen.
Aber Hannah verstand es. Lara hatte etwas zu beweisen – und ging es ihr da nicht genauso? Waren diese ganzen letzten Wochen nicht einzig und allein dafür da gewesen, sich selbst zu beweisen, dass Owen unrecht gehabt hatte? Dass sie auch ohne ihn ein erfülltes und spannendes Leben führen konnte? Auch wenn sie es natürlich auf seine Anordnung hin tat?
Seien wir ehrlich, Hannah: Ohne mich bist du aufgeschmissen. Ohne mich wirst du in deinen Büchern und deiner Arbeit versacken, deinen blöden Lebensplan durchziehen und dich in ein paar Jahren kaum noch daran erinnern, was Spaß überhaupt bedeutet. Also, kannst du mir nur diesen einen Gefallen tun, ja? Nur diesen einen?
Ihre Brust wurde enger und ein vertrautes Ziehen setzte in ihrem Herzen ein. Sie hatte seine ironische Miene praktisch vor Augen. Konnte sie ebenso wenig ignorieren wie einen pinken Gorilla, der Walzer tanzte. Es war, als säße er jetzt gerade neben ihr, als würde er …
Genug.
„Du darfst nicht aufhören, zu atmen, Lara“, erinnerte sie ihre Freundin – nicht zu vergessen sich selbst – und zog sich gewaltsam aus ihren Gedanken. „Mit Sauerstoff in Lunge und Blut läuft alles besser! Außerdem bin ich Callum Panther eigentlich zu Dank verpflichtet.“
„Wie das? Du hast ihn noch nie in deinem Leben getroffen!“
„Nein, ich weiß, aber er ist indirekt schuld daran, dass ich mich in diesem hübschen Hotel hundert Meilen außerhalb der Stadt befinde und morgen versuchen werde, zu fliegen. Es ist schließlich sein Kühlschrank gewesen, an dem der Flyer für die Tandem-Fallschirmsprünge gehangen hat. Wer weiß, ob ich mich dazu durchgerungen hätte, Nägel mit Köpfen zu machen, wenn du mir den nicht mitgebracht hättest?“
„Hättest du. Dein Bruder hat dir quasi eine Hausaufgabe hinterlassen – und denen konntest du noch nie widerstehen.“
Auch wieder wahr. „Ist ja auch egal. Callum Panther macht dir das Leben schwer? Was genau hat er getan?“
„Na ja, er …“ Lara brach ab und einige ewigwährende Sekunden lang herrschte absolute Stille auf der anderen Seite, dann meinte sie ungläubig: „Oh mein Gott, du hast es schon wieder getan! Du hast von dir selbst abgelenkt und jetzt reden wir über mich. Mir ist das nie aufgefallen, bevor Owen erwähnt hat, dass du das immer tust. Dabei habe ich angerufen, um zu fragen, wie es dir geht.“
Hannah presste die Lippen aufeinander und verengte die Augen. Ihr Bruder leistete wirklich ganze Arbeit – und das aus seinem Grab heraus. Das war beeindruckend. „Wie soll es mir schon gehen?“, fragte sie etwas feindseliger als gewollt. „Ich habe noch weitere fünf Wochen Urlaub, rede nicht mit meinen Eltern, bin nach einer dreijährigen Beziehung endlich wieder Single, werde mich morgen aus einem Flugzeug stürzen und habe soeben einem nackten Mann mein Nachthemd geschenkt. Mein Leben ist genau so, wie ich es mir nie ausgemalt habe. Ich erfülle Owens letzten Willen also perfekt!“
„Hannah, ich will wissen, wie du dich fühlst, nicht wie … Moment. Was? Sagtest du, du hast einem nackten Mann dein Nachthemd geschenkt?“
„Jup“, sagte sie zufrieden, und ein hartnäckiges Lächeln stahl sich zurück auf ihr Gesicht. „Er stand vor meiner Tür und hat um Kleidung gebeten.“
„Und du hast ihm aufgemacht?“, meinte Lara schockiert.
„Natürlich“, erwiderte sie leichthin. „Der Arme hat gefroren.“ Sie behielt für sich, dass sie zuerst durch die Tür und dann mit vorgeschobener Kette mit dem Fremden geredet hatte. So wirkte die Geschichte um einiges cooler, nicht so … hannahesk. Wie Owen es beschrieben hätte.
„War er ein Obdachloser?“
„Nein, ein Gast aus dem Hotel, der von seinem Date rausgeworfen wurde, weil er sich ungebeten nackt ausgezogen hat.“
„Ach so“, sagte Lara spitz, als würde das alles erklären. „Na dann war er sicherlich ein netter Typ, der deine Hilfe verdient hatte.“
Hannah grinste. „Er war tatsächlich sehr freundlich und gut aussehend. Warum hätte ich ihm mein Nachthemd nicht geben sollen?“
Ihre beste Freundin schnaubte laut. „Meine Fresse, so langsam glaube ich ja, dass Owen mit dieser Liste nur erreichen wollte, dass du vollkommen am Rad drehst und irgendwann deinen Verstand verlierst.“
Ja, das vermutete Hannah zeitweilig auch. Owen hatte ihr eine Reihe von Gründen hinterlassen, warum es wichtig sei, dass sie die Liste für ihn beendete … aber jeder einzelne war ihrer Meinung nach weit hergeholt und nicht gerechtfertigt.
Trotzdem saß sie jetzt hier im Hotel und würde morgen einen Fallschirm an ihren Rücken schnallen.
Ja, vielleicht hatte sie ihren Verstand bereits verloren. Aber was hätte sie tun sollen? Die letzte Bitte ihres todkranken Bruders ablehnen?
Ach, so schlimm würde das alles schon nicht werden. Zur Beruhigung hatte sie schließlich die Flasche Whiskey dabei. Sie war wie immer auf alle Eventualitäten vorbereitet … was wiederum eigentlich das war, was Owen nicht von ihr wollte.
Stirnrunzelnd öffnete sie die Augen. So langsam verlor sie den Überblick darüber, wer sie war, wer sie sein wollte, wer sie laut Owen sein sollte und wer sie werden würde.
„Wie geht es dir denn jetzt wirklich?“, fragte Lara nach einigen Minuten sanft.
Hannah verzog das Gesicht. Sie hatte gehofft, dass ihre beste Freundin vergaß, dass sie auf diese Frage noch nicht geantwortet hatte. „Es geht“, sagte sie wahrheitsgemäß. „Ich fühle mich einfach etwas … verloren. Das ist alles. Ich vermisse ihn. Ich weiß, es ist ein halbes Jahr her, aber … es hat sich nichts geändert, weißt du?“
„Ja“, murmelte Lara. „Das verstehe ich. Ich vermisse ihn auch. Er war ein cooler Typ.“
Wieder lächelte Hannah. „Ihm hätte gefallen, dass du das sagst. Er stand immer ein wenig auf dich.“
„Tja, tut mir leid, aber er sah dir schlichtweg zu ähnlich. Ich hätte mich gefühlt, als würde ich mit dir ins Bett steigen. Und so sehr ich dich auch liebe … einige Dinge möchte ich dann doch nicht mit dir teilen.“
„Ich bin schockiert und extrem enttäuscht“, sagte Hannah gespielt entrüstet.
„Das solltest du auch sein. Ich bin eine Wucht im Bett. Na schön. Es ist spät, ich muss morgen früh nach New York zurückfahren. Ich lege auf, okay?“
Hannah nickte. „Ja, mach das. Ich geh jetzt auch schlafen. Ich habe morgen eine Menge vor.“
„Das hast du. Und mach keinen Rückzieher, okay? Du wirst morgen aus einem Flugzeug springen und es genießen, haben wir uns verstanden?“
Sie zog eine Grimasse. „Wie soll ich es genießen, wenn ich mit 220 Kilometern pro Stunde dem Boden entgegenrase?“
„Keine Ahnung. Mit geschlossenen Augen?“
Das war gar keine schlechte Idee. „Na gut“, sagte Hannah seufzend. „Ich werde in meiner Todesangst an dich denken.“
„Das ist es, was ich hören wollte! Schlaf schön, Hannah. Ich bin stolz auf dich, weißt du? Dass du das wirklich durchziehst. Hab dich lieb.“
Sie legte auf und Hannah starrte einige Sekunden lang das Telefon an.
Stolz. Ihre beste Freundin war stolz auf sie.
Owen wäre es wahrscheinlich auch gewesen. Ihre Eltern … ihre Eltern hatten keine Ahnung, wo sie war und was sie tat. Was pure Absicht war.
Leise stöhnend stand sie auf, legte die Kleidung für den morgigen Tag auf einen Stuhl nahe der Balkontür, putzte sich die Zähne und zog sich das große Philadelphia Delphies-T‑Shirt über, das Owen ihr mal in dem Versuch, sie für Sport zu begeistern, geschenkt hatte.
Der Versuch war fehlgeschlagen. Hannah fand Baseball immer noch langweilig und unverständlich.
Vorsichtig schlüpfte sie unter die fremde Decke, atmete den fremden Geruch des fremden Zimmers ein … und wunderte sich darüber, dass sie sich in diesem Hotel gerade wohler fühlte als in den letzten sechs Monaten in ihrer eigenen Wohnung.
Vielleicht lag es daran, dass ihr morgiges Vorhaben ihr das Gefühl gab, Owen näher zu sein als sonst. Weil er das einzige Familienmitglied gewesen war, das solche Kamikaze-Aktionen gutgeheißen hatte. Und weil er sicherlich in seinem Krankenhausbett gelegen und sich bei dem Gedanken daran kaputtgelacht hatte, seine große Schwester mit seinem letzten Wunsch dazu zu zwingen, eine Menge Dummheiten zu begehen, an die sie sich nicht einmal in ihren Träumen herangewagt hätte.
„Oh, Owen, du Bastard“, wisperte sie. „Du wusstest genau, was du da tust, oder?“
Niemand antwortete ihr und sie war fast beruhigt. Das hätte ihre Selbstgespräche nämlich auf eine besorgniserregende Ebene gehoben.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch.
Morgen würde ein furchtbarer Tag werden, der mit Panikattacken und einer Menge Geschrei gefüllt sein würde. Blieb nur zu hoffen, dass sich zumindest die Albträume heute Nacht von ihr fernhielten.
Kapitel 2
Cooper Panther fuhr schweißgebadet aus dem Schlaf.
Sein Atem war flach, sein Herzschlag hektisch und seine Hände zitterten.
Einige Sekunden lang sah er sich orientierungslos im Raum um. Er starrte die zugezogenen Gardinen an, die trotz der Dunkelheit blutrot zu leuchten schienen. Er betrachtete den glänzenden Flachbildfernseher an der gegenüberliegenden Wand, der ihm nicht gehörte. Er hörte das Surren der fremden Klimaanlage.
Wo genau befand er sich? Träumte er noch oder hatte er bereits zurück in die Realität gefunden?
Er setzte sich aufrechter hin, schaltete die Nachttischlampe an und presste beide Fäuste auf seine Augenhöhlen. Konzentriert sog er Luft durch die Nase ein und stieß sie durch den Mund wieder aus, bis nur noch seine eigenen Atemzüge in seinen Ohren widerhallten und seine Gedanken sich klärten.
Das hier war die Realität.
Er befand sich in einem Hotel in Williamstown, knapp hundert Meilen außerhalb von Philadelphia. Er war geschäftlich hier. Er hatte nur mal wieder schlecht geträumt. Das passierte. Zu dieser Zeit des Jahres häufiger als ohnehin schon.
„Fuck“, wisperte er und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, kratzte mit den Fingern über seine Schläfen und seinen Kopf. So, als könne er so die Bilder loswerden, die sich dort festgesetzt hatten wie Zecken in Hundefell.
Was für ein erbärmlicher Hampelmann war er nur? Musste einen Abend lang auf Ablenkung verzichten und schon war in seinem Kopf Tag der offenen Tür für jeden Mist, den er doch sonst so erfolgreich verdrängte.
Er hatte sich in den letzten Wochen tatsächlich der Wunschvorstellung hingegeben, dass es dieses Jahr anders sein würde. Dass es ihm besser ging, er um einiges ausgeglichener und … nun, glücklicher war als sonst.
Aber offenbar hatte er sich geirrt. Offenbar hatte sich sein Kopf noch genauso gegen ihn verschworen wie vor fünf Jahren.
Er schaltete auch das Nachttischlicht auf der anderen Seite des Bettes an und zuckte zusammen, als ein Vibrieren ihm durch Mark und Bein fuhr.
Es war sein Handy, das er achtlos auf die Matratze neben sich gelegt hatte und nun unter zwei Kissen und der Decke vergraben war. Sein Schlaf war wohl etwas unruhig gewesen.
Wer zur Hölle rief jetzt noch an? Es war kurz nach zwei.
Doch als er sah, welcher Name da auf dem Display blinkte, wunderte er sich fast gar nicht mehr.
Er hob ab, und noch bevor er etwas sagen konnte, fragte Callie: „Alles okay bei dir? Ich hatte ein ungutes Gefühl.“
Er schnaubte und das Metall fühlte sich ungewohnt kühl an seinem Ohr an. „Jetzt fängst du an, telepathische Zwillingsfähigkeiten zu entwickeln, aber als mein Auto liegen geblieben ist und ich auf dem einsamen Highway beinahe erfroren wäre, hast du nichts gespürt?“
„Manchmal funktionieren meine Antennen, manchmal nicht“, sagte seine Schwester schlicht. „Also, alles okay? Ich hatte einen Albtraum und musste irgendwie an dich denken, also …“
Seufzend rieb sich Cooper das Kinn. Er hielt nicht viel von übernatürlichem Zeug. Er glaubte nicht an Horoskope, hielt Gott für ein falsch geschriebenes englisches Verb und wenn er einen Engel sah, war er sich ziemlich sicher, dass er sich auf einer Victoria’s Secret-Modenschau befand. Nichtsdestotrotz ließ sich nicht leugnen, dass Callie und er eine absurde Intuition hatten, wenn es um ihr Befinden ging.
Er hatte es gewusst, als Callie vor zwölf Jahren im Krankenhaus gelandet war. Sie hatte es gewusst, als David gestorben war.
So war es einfach. Es lohnte sich nicht, näher darüber nachzudenken.
„Mir geht’s gut“, murmelte er. „Hatte nur einen dummen Albtraum.“
„Worum ging es in dem Albtraum?“
„Das Übliche.“
Callie seufzte. „Aber was ist das Übliche? Du hast mir nie erzählt, was genau das für Träume sind.“
Ja, und das würde er auch nicht ändern. „Es kommen keine Herzchen oder Kuscheltiere darin vor und ich fühle mich danach beschissen, Callie“, sagte er trocken. „Musst du mehr wissen?“
„Nein. Ich muss nicht. Aber ich würde gerne“, sagte sie leise. „Ich habe das Gefühl, dass es dir guttun würde, wenn du …“ Sie zögerte. „Wenn du mit jemandem offen darüber reden könntest.“
Aber wer sollte das sein? Wenn er seine Gedanken schon nicht mit Callie teilen konnte, der Person, die ihn am besten kannte und der er mehr vertraute als Callums selbst erstelltem Antivirusprogramm, mit wem dann bitte sonst?
Einem fremden Therapeuten vielleicht, der ihm mit nebeliger Stimme erklärte, dass er durch das Trauma hindurcharbeiten und lernen müsse, seine Vergangenheit zu akzeptieren?
Wenn er sich mit einem Affen unterhalten wollte, ging er in den Zoo.
Coop fühlte sich auch gar nicht danach, weiter auf seine Träume einzugehen. Er wusste, was sie bedeuteten. Wusste, dass sie sich aus Schuldgefühlen und Grausamkeit zusammensetzten. Wusste, dass sie ihn daran erinnerten, dass er nicht dafür geschaffen war, Verantwortung für andere und ihre Entscheidungen zu übernehmen.
Worüber sollte er also noch groß quatschen?
„Coop, soll ich vielleicht wieder zu dir ziehen?“, fragte Callie leise. „Nur für die nächsten Wochen?“
„Nein“, sagte er streng. „Auf gar keinen Fall.“
So weit kam es noch, dass er seine Schwester in sein lächerliches Leid mit reinzog, obwohl sie doch gerade zum ersten Mal seit etlichen Jahren wirklich glücklich und noch dazu eklig verliebt war.
„Es würde mir nichts ausmachen. Wirklich.“
„Mir aber. Du schnarchst, bist eine absolute Chaotin und lässt überall deine Schokolade herumliegen. Ich kann meinen wunderschönen Körper nicht riskieren. Außerdem hast du beim letzten Mal aktiv mein Sexleben sabotiert. Also vergiss es. Ich habe mir schon einen Uterus mit dir geteilt, meine Wohnung kriegst du nicht. Zumindest nicht noch einmal.“
„Oh, bitte, ich schnarche nicht“, sagte Callie pikiert. „Ich atme ausdrucksstark. Abgesehen davon, sehe ich es als meine weibliche Pflicht an, dich von so vielen unschuldigen Frauen wie möglich fernzuhalten.“
Seine Mundwinkel zuckten. „Glaub mir, Callie. Die Frauen, die bereitwillig meine dreckigen Laken zerwühlen, sind alles andere als unschuldig.“ Die meisten waren sogar noch schlimmer als er! Und das war gut so, denn es minimierte die Chance, dass sie mehr von ihm erwarteten.
„Deine dreckigen Laken zerwühlen?“, sagte Callie irritiert. „Wäschst du deine Laken nie? Oder gehen dir nur langsam die hübschen Synonyme für emotions- und bedeutungslosen Sex aus? Was stimmt nicht mit dir? Mit wie vielen Frauen hast du überhaupt schon geschlafen? Zählst du noch mit?“
Er lachte leise, während Callie in einen Monolog darüber verfiel, warum er einen furchtbaren Lebensstil hatte. Er blendete sie aus und entspannte sich merkbar. Er hatte gewusst, dass seine Wortwahl sie auf die Palme bringen würde, und so hatte er fünf Minuten gewonnen, in der er ihrer Tirade lauschen konnte und ihre Stimme ihn wie eine warme Umarmung umgab.
Coop wusste, dass er mit zu vielen Frauen schlief. Er war ein ziemlich reflektierter Mensch, und wenn man nicht mehr in der Lage war, seine Eroberungen zu zählen, war das wohl immer ein schlechtes Zeichen. Doch das hieß nicht, dass er kein moralischer Mensch war.
Er hatte Regeln. Er war ehrlich zu den Frauen. Er sagte ihnen von vornherein, woran sie bei ihm waren. Er datete niemanden mit Verlobungs- oder Ehering am Finger. Und er nutzte es niemals aus, wenn eine Frau gerade verletzlich war.
„… wirst du irgendwann an einer schrecklichen Geschlechtskrankheit verrecken oder von einer Verflossenen überfahren werden“, endete Callie gerade, und lächelnd öffnete er wieder die Augen.
„Das hört sich nach einem tragischen Ende für mich an. Fast filmreif. Versprichst du, wenn es soweit ist, jemand halbwegs Talentierten mit meinen Memoiren zu betrauen?“
Sie schnaubte. „Coop, du bist –“
„Callie?“, drang plötzlich eine verschlafene Stimme aus dem Hintergrund. „Mit wem telefonierst du? Ist das ‚der begehrteste Junggeselle der Stadt‘, mit dem du da sprichst?“
Stöhnend schloss Coop die Augen und ließ sich gegen den Bettkopf fallen.
„Ja“, meinte Callie fröhlich. „Es ist ‚der faulenzende Playboy, der genauso viel Geld wie benutzte Höschen in seinem Schrank hat‘.“
Gott, dieser bescheuerte Artikel, der seit einer Woche im Umlauf war! „Hey, ich sammle keine Höschen!“, beschwerte Coop sich sofort. „Ich bin vielleicht … sexuell erfahren, aber nicht eklig, okay? Der Reporter hat schlecht recherchiert. Außerdem faulenze ich nicht, sondern habe einen Job.“
„Einen Faulenz-Job, in dem du Teenagern beibringst, wie sie lebensmüde aus einem Flugzeug springen“, gab Callie zu bedenken.
Er presste die Lippen aufeinander. Ja, er hatte abgelenkt werden wollen. Aber doch nicht, indem Pest durch Cholera ersetzt wurde!
Coop konnte Callies Freund lachen hören und verengte die Augen. „James soll mal schön die Klappe halten“, meinte er düster. „Das einzig Gute, das ich nämlich gerade über deinen Journalisten-Freund sagen kann, ist, dass er den dummen Artikel nicht geschrieben hat.“
Seine Schwester stimmte in James’ Lachen mit ein. „Er hätte gerne, weißt du? Er ärgert sich, dass ihm die Idee nicht früher kam. Damit hätte er eine Menge Geld machen können.“
„Ich dachte, er wollte damit aufhören, im Dreck der Reichen und Schönen herumzuwühlen“, meinte er trocken.
„Oh, ja. Aber manchmal hat er einen Rückfall. Egal. Da es dir wieder ganz gutzugehen scheint und ich dich gerade schon am Telefon habe: Wo warst du gestern Mittag? Ich habe dich im Center erwartet!“
Callie führte seit ein paar Monaten ein Jugendzentrum und war noch in der Aufbauphase, für die sie alle naslang Hilfe von ihren Geschwistern erwartete.
„Ja, tut mir leid, ich konnte nicht“, sagte er ernst. „Es ist was Wichtiges dazwischengekommen.“
„Ach ja? Was war das?“
„Ich musste meine Jeans bügeln und Callums Fisch füttern. War alles sehr anstrengend und zeitaufwändig.“
„Cal hat keinen Fisch!“
„Richtig. Er ist tot. Die Jeans hat so lange gebraucht, da kam ich zu spät, um ihn zu füttern.“
Callie schnaubte. „Du bist ein Volldepp, Coop! Ich hatte fünfzehn Kids da sitzen, die jemanden gebraucht hätten, der ihnen erzählt, wie ihr Leben enden wird, wenn sie einer Gang beitreten oder eine Karriere als Kleinkriminelle anstreben. Du weißt genau, dass du der perfekte Mann dafür bist! Du könntest ihnen ordentlich einheizen. Ich meine … du weißt, was mit ihnen passiert, wenn sie sich nicht zusammenreißen, also …“
„Jaja. Ich überleg es mir“, unterbrach er sie.
„Nichts da. Ich will eine verbindliche Zusage für nächsten Samstag!“
„Ich …“
„Oh, und wenn du schon da bist, könntest du ihnen auch noch einen Vortrag über sexuell übertragbare Krankheiten halten. Dafür suche ich auch noch jemanden. Du müsstest doch eine Menge Erfahrung in dem Bereich haben, also …“
„Schon gut“, knurrte er. „Ich werde mich um die Kleinkriminellen kümmern. Aber für die Sex-Krankheiten musst du dir jemand anderen suchen.“
„Wunderbar. Dann trag ich dich für elf Uhr ein. Ich muss jetzt auch auflegen, James sieht mich böse an.“
„Okay. Danke, dass du angerufen hast.“
„Immer, Coop“, sagte sie leiser. „Versuch zu schlafen, ja?“ Mit diesen Worten legte sie auf.
Coop ließ das Handy sinken und starrte auf den erloschenen Flachbildschirm ihm gegenüber.
Versuch zu schlafen.
Die Worte klangen so einfach, doch sie in die Tat umzusetzen, war unmöglich.
Seine Panik war verflogen und sein Herzschlag hatte sich beruhigt. Dennoch … Seufzend fuhr er sich über das Gesicht. Aus Erfahrung wusste er, dass er eine ganze Weile nicht würde einschlafen können. Dabei musste er am nächsten morgen früh raus, weil er eine Reihe von Tandemsprüngen beaufsichtigte.
Kopfschüttelnd schwang er die Beine aus dem Bett. Es half ja alles nichts.
Die Albträume lauerten in den Ecken seiner Gedanken, und er würde erst Ruhe finden, wenn die Bilder nicht mehr so schmerzhaft detailliert in seinen Geist eingebrannt waren.
Mit anderen Worten: in ein bis zwei Stunden.
Genervt von sich selbst und dem fremden Hotelzimmer, das ihm nicht dabei half, sich wohlzufühlen, lief er durch den Raum, zog die Vorhänge beiseite und öffnete die Balkontür.
Die kühle Nachtluft schlug ihm entgegen und ließ ihn freier atmen. Der März in Pennsylvania war nicht sonderlich warm und kuschlig, doch die Klimaanlage war ohnehin so kalt gewesen, dass er ausnahmsweise mit T‑Shirt geschlafen hatte – die Gänsehaut, die seine nackten Unterarme überzog, gab ihm zumindest das Gefühl, wirklich und wahrhaftig wach zu sein. Eine Empfindung, die er in den letzten Jahren zu schätzen gelernt hatte.
„Wow, angezogen hätte ich Sie beinahe nicht erkannt.“
Er zuckte zusammen und riss den Kopf herum. Er hatte geglaubt, allein hier draußen zu sein, doch er hatte sich geirrt. Auf dem benachbarten Balkon, lediglich von einer dünnen Eisenstange abgetrennt, saß jemand.
Eine kleine dunkelblonde Frau mit hellbraunen Augen, einer Menge Sommersprossen und einem warmen Lächeln. Sie saß auf einem der Plastikstühle, hatte die Beine angezogen und mit ihren Armen umschlungen, ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit auf dem quadratischen Plastiktisch vor ihr.
Sie trug ein riesiges, unförmiges T‑Shirt, das sie als Fan der Delphies outete – die Baseballmannschaft Philadelphias, deren Besitzer zufälligerweise sein Bruder Cole war –, und eine dunkelrote Jogginghose, die wohl nicht einmal dem Lieblingsengel Gottes geschmeichelt hätte.
Coop erkannte sie sofort. Es war Hannah. Die Zimmernachbarin, die ihm freundlicherweise ihr Nachthemd geschenkt hatte, damit er in der Rezeption keine unschuldigen Kinder erschreckte. Peinlich war das Ganze trotzdem gewesen. Na ja, zugegebenermaßen trug er selbst Schuld an diesem Schlamassel. Die betrunkene Wette mit Callum ernst zu nehmen und Den nackten Mann auszuprobieren, war keine seiner intellektuellen Glanzleistungen gewesen.
„Hey“, sagte er nachdenklich und hob die Hand. „Ich bin verwirrt: Haben Sie soeben gesagt, dass mein Körper einprägsamer ist als mein Gesicht? Das ist wirklich enttäuschend oberflächlich von einer Frau mit einem so bezeichnend schlechten Geschmack in Nachthemden.“
Sie lächelte – und ihr Lächeln war so ehrlich und entwaffnend, dass Coop automatisch einen Schritt zurückmachte. „Oh, nein. Keineswegs. Darauf würde ich nie kommen. Ich finde Ihr Gesicht und Ihren Körper gleichermaßen beeindruckend.“
Er glaubte ihr. Denn sie war die Art von Frau, die man sich leicht dabei vorstellen konnte, wie sie eine orientierungslose Großmutter über die Straße führte oder einem verletzten Eichhörnchen ein Zuhause in ihrer Sockenschublade anbot.
Sie sah schlichtweg … freundlich aus. Eine Person, der man, ohne zu zögern, die Tür öffnen und ein paar Kekse anbieten würde, denn sie konnte einem unmöglich etwas Böses wollen.
Das war ihm vorher im Flur schon aufgefallen, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt mit ein paar anderen Gedanken beschäftigt gewesen war.
„Möchten Sie was trinken?“ Sie hob eine Flasche Whiskey hoch, die neben ihrem Stuhl gestanden hatte, und winkte damit. „Allein zu trinken, ist immer so erbärmlich. Zu zweit jedoch …“
Coop rieb sich mit der Hand über den Nacken. Eigentlich hatte er keine Lust auf Gesellschaft. Doch die Aussicht, in das deprimierend leere Zimmer zurückzukehren, war noch sehr viel beschissener. Und zu einem guten Glas Whiskey sagte er nie Nein.
„Klar“, meinte er deswegen, zog sich seinen eigenen Plastikstuhl heran, ließ sich darauf fallen und streckte die langen Beine aus, sodass sie gegen die Balkonreling stießen.
Hannah beugte sich derweil vor, sodass ihre langen, blonden Haare wie ein Vorhang über ihr Gesicht fielen, und barg schließlich ein zweites Glas, das sie für ihn füllte.
„Haben Sie mit Gesellschaft gerechnet?“, fragte er amüsiert. „Oder warum haben Sie direkt ein zweites Glas parat?“
Sie strich sich die Haare hinter die Ohren, und er konnte sehen, wie sie rot anliefen. Süß. „Ehrlich gesagt habe ich es dabei, damit, falls jemand anderes auf seinen Balkon kommt, ich so tun könnte, als würde ich nicht allein trinken“, gab sie zu. „Aber vor Ihnen ist mir das nicht unangenehm, da ich ja schon weiß, dass Sie ein Idiot sind, dem sehr viel peinlichere Dinge passieren.“ Sie reichte ihm das Glas, prostete ihm zu und leerte ihres, bevor sie sich nachschenkte.
Coops Mundwinkel zuckten. Das war ein guter Punkt. „Na ja, eigentlich mache ich es mir nicht zur Regel, nackt durch ein fremdes Hotel zu spazieren. Das war eine Ausnahmesituation.“ Er trank einen Schluck und musste feststellen, dass das Zeug gut war. Hannah schien etwas von Alkohol zu verstehen.
„Ach, fühlen Sie sich nicht allzu schlecht. Ehrlich gesagt waren Sie das Highlight meines heutigen Tages“, meinte sie seufzend, schwenkte die Flüssigkeit in ihrem Glas und sah abwesend in die Ferne. Auf die Baumkette, deren Kronen von silbrigem Mondlicht benetzt wurden. „Habe schon lange nicht mehr so viel gelacht.“
Ihre Worte waren so unangenehm ehrlich und ihre Miene einen Moment lang so furchtbar traurig, dass Coop unwohl auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Er war gut darin, mit Frauen Spaß zu haben, nicht, über ihre Gefühle zu reden. Vielleicht hätte er doch lieber reingehen sollen. Aber jetzt saß er schon hier, und da er sie definitiv nicht nach ihren Problemen fragen würde – erstens kannte er sie nicht, zweitens interessierten sie ihn nicht, drittens hatte er seinen eigenen Scheiß, um den er sich kümmern musste –, wechselte er hastig das Thema. Er räusperte sich. „Sie sind also Fan der Delphies?“
„Was?“ Sie wandte den Kopf und sah ihn einige Sekunden lang verständnislos an. Dann blickte sie an sich hinab und lachte laut. „Oh Gott, nein. Ich verstehe so viel von Baseball wie von Raketentreibstoff. Das Shirt war ein Geschenk und ich habe es nicht übers Herz gebracht, es wegzuwerfen.“
Gott sei Dank. Dann sank die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn doch noch erkannte. „Verstehe. Kein Baseball-Fan und keine Raketenforscherin.“
„Nope“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Wieso? Sind Sie Fan, Cooper?“
Er hob die Schultern. Wenn man bedachte, dass seinem Bruder die Mannschaft gehörte, einer seiner besten Freunde dort Baseman und er regelmäßiger Besucher der VIP-Lounge war, gab es wohl nur eine klare Antwort darauf.
„Nicht wirklich.“