Die Lügendiebin – Leseprobe

Kapitel 1

Lügen sind ein lukratives Geschäft.

Das war das Erste, was meine Mutter mir beibrachte.

Meinem älteren Bruder Trent zeigte sie, wie er ein Hemd richtig faltete. Meiner Schwester Cora erklärte sie, wie man ein rostiges Rohr am Heizofen austauschte. Mich jedoch unterrichtete sie darin, wie man unbedachte Worte zu Geld machte.

Blutrote Lügen und fuchsiafarbene Halbwahrheiten waren die einzig wahre Währung. Egal, was das Königshaus behaupten mochte. Das war es, was sie mir jeden Abend vor dem Schlafengehen ins Ohr geflüstert hatte.

Und sie hatte recht, oder nicht?

Lügen verloren nie an Wert. Sie starben nicht aus. Sie verjährten nicht.

Die Menschen hatten zu viele Schwächen und Geheimnisse, die sie zwanghaft zu verbergen versuchten, als dass es anders sein könnte.

Vielleicht war es verwerflich, daraus Profit zu schlagen … aber wenn ich mich jemals unwohl damit gefühlt haben sollte, dann hatte ich mich mittlerweile erfolgreich vom Gegenteil überzeugt.

Mir gefiel es, den Menschen die Worte, die so unvorsichtig von ihren Lippen perlten, aus dem Mund zu stehlen. Denn ich war so verdammt gut darin! Ich wünschte mir manchmal nur, dass es weniger aufwendig wäre, eine brauchbare Lüge zu finden. Die alltäglichen Flunkereien von der Straße waren wertlos. Es waren die Geheimnisse der Reichen und Schönen, die ich sammelte. Und die waren schwer zu beschaffen. Schwer. Aber nicht unmöglich.

Nein, nie unmöglich, dachte ich und zog lächelnd den Lederriemen enger um meine Taille. Ich versicherte mich, dass ich genug Pergament und Glasphiolen in meinen mit Knöpfen versehenen Taschen hatte, und fragte mich, ob meine Mutter stolz auf mich wäre, wenn sie mich jetzt sehen könnte.

„Fawn?“

„Sei still, Finch.“

„Fawn, ich kann deine Unterhose sehen.“

Ich verdrehte die Augen. Na, vielleicht nicht stolz. Aber zumindest beeindruckt. Auch wenn ich meine Lügen natürlich an die von ihr verachteten Dunkeldiebe verkaufte – und nicht etwa an die Wächter, so wie sie es getan hatte.

„Findest du nicht, dass eine gelbe Unterhose einen falschen Eindruck vermittelt?“, murmelte Finch unzufrieden. „Die Leute könnten auf die Idee kommen, du hättest ein sonniges Gemüt. Das wäre selbst für deine Verhältnisse eine große Lüge.“

„Halt die Klappe.“

Zurzeit hing ich kopfüber von einem verräterisch weißen Dachgiebel und war nicht an einer sinnlosen Plauderei interessiert. Ein Sturz aus zwanzig Fuß könnte mich mein Leben – oder noch schlimmer, meine Geduld – kosten, deswegen beließ ich es bei diesen Worten. Mir war durchaus bewusst, dass mir der Rock an den Ohren hing, aber Schamgefühl hatte in meinem Handwerk nichts verloren. Außerdem: Falls ich erwischt werden sollte, konnte ich mich in diesem Kleid noch immer als Dienstmädchen ausgeben.

„Und ich dachte immer, dass ich deine Unterhose erst sehe, wenn du mir deine ewige Liebe gestehst“, sinnierte Finch seufzend weiter und hätte ich meinen Fuß nicht zum Festhalten gebraucht, hätte er längst in seinem Rachen gesteckt.

„Finch, ich schwöre dir, wenn du nicht gleich –“ Ich brach ab. Ein hölzernes Knarren ertönte und forderte meine gesamte Aufmerksamkeit. Hastig hob ich den Kopf, damit die Wache, die aus einem Fenster zwei Stockwerke tiefer sah, mich nur erkennen könnte, wenn sie sich rückwärts aus dem Haus lehnte. Obwohl die Sonne gerade erst ihren siebten Schritt getan hatte, war es bereits dunkel. Bis zum Friedensjahresende waren es nur noch knapp anderthalb Monate, sodass der hereinbrechende Abend Mentano bereits etwas früher als sonst in fahles Dämmerlicht tauchte. Die Dunkelheit half … aber ich hätte sie nicht gebraucht. Ich war schon über ein dutzend Mal in das Anwesen der Falcrons eingebrochen. Ich kannte die Routine. Zwei Straßenpatrouillen, eine Menge Schlösser und ein vorhersehbarer Nachtwächter.

Die Bewohner des weißen Rings, dem reichsten Teil unseres Landes, waren ein vorsichtiges Völkchen. Ich schätze, je mehr man besaß, desto größer war die Angst, es zu verlieren. Dabei sorgten sich die hier wohnenden Weißen Magier und Adeligen regelrecht panisch um ihr Hab und Gut. Obwohl ich doch bloß die Worte brauchte, die so unbedacht ihren Mund verließen.

Der Fensterladen unter mir knarzte erneut, als der Wächter ihn weiter aufstieß und das Meer aus weißen Dächern sowie die Straße vor uns absuchte. Jetzt war selbst Finch still. Auch er hatte die Bewegung bemerkt. Den Atem anhaltend presste er sich an die dünne Stange des Blitzableiters, auf dem er saß, den schmalen Kopf zwischen die breiten Schultern gezogen. Wie ein ängstliches Brathähnchen am Spieß. Er war kein Freund von Einbrüchen. Er war besser darin, zu verhandeln und Leute einzuschüchtern. Eine Fähigkeit, die die Dunkeldiebe für sich zu nutzen wussten. Ich war mir sicher, dass Finch eine schillernde Zukunft innerhalb ihrer Reihen vor sich hatte – doch bis es so weit war, würde er weiter für mich Schmiere stehen.

Mein Karriereweg unter Crow, dem Anführer der Dunkeldiebe, war noch unklar. Meine Zunge war zu schnell und zu scharf, um mir beim Handeln etwas Gutes zu tun. Ich hätte wohl schon das ein oder andere Mal den Kopf verloren, wenn die Diebe nicht wüssten, dass ich sein Liebling war.

Ich war eine gute Lügendiebin. Nein, ich war die beste Lügendiebin. Sie brauchten mich – eine Menge Ansehen oder gar Respekt genoss ich trotzdem nicht. Ich war schließlich weder gefährlich noch brutal oder sonderlich angsteinflößend.

Noch nicht. Aber das konnte sich jede Nacht ändern. Ich brauchte nur die richtige Lüge …

Meine Bauchmuskeln fingen gerade an zu brennen, als der Nachtwächter den Fensterladen mit einem Klappern wieder schloss und Finch wisperte: „Die Luft ist rein, die Straße leer. Also los.“

Sofort löste ich ein Bein vom hervorstehenden Giebel, stieß mich vom Dach ab und schwang vor und zurück. Die Hände hielt ich weit nach unten gestreckt, in Richtung der naheliegenden diamantenen Laterne, die den sanft klappernden, sperrangelweit offenen Fensterladen direkt unter mir erhellte.

„Nur damit das klar ist“, flüsterte ich und erhöhte meine Geschwindigkeit. „Das einzige Mal, dass ich dir meine Unterwäsche freiwillig zeigen werde, ist, wenn ich sie dir zum Waschen gebe!“ Im nächsten Moment löste ich das Bein.

Die Luft peitschte mir ins Gesicht, während ich mich in einer Pirouette um die eigene Achse drehte. Ich griff nach dem gebogenen Laternenmast, der ein unheilvolles Quietschen von sich gab, und schwang mich einmal um ihn herum, durch das offene Fenster, das mit nichts außer Luft und Vertrauen gesichert war.

Was dachten sich die Reichen nur dabei? Hatten Angst, bestohlen zu werden, waren aber gleichzeitig zu arrogant, um wirklich damit zu rechnen. Dummköpfe.

Geduckt landete ich auf dem weichen Teppich, der meinen Aufprall dämpfte. Er roch nach Lavendel und Hyazinthen. Nur schwer konnte ich mich von einem Schnauben abhalten. Wer parfümierte seinen Fußabtreter? Das war verwerflicher als Lügen zu stehlen.

Ich atmete tief ein und aus und überprüfte noch einmal, ob meine Handschuhe gut saßen. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, um etwas Brauchbares zu finden. Sobald die Sonne ihren nächsten Schritt tat und komplett unterging, nahm der Nachtwächter seine Position vor dem Eingang ein und machte es mir unmöglich, sicher und unbemerkt wieder aus dem Haus zu gelangen.

Aufregung pumpte durch meine Adern und trieb meinen Herzschlag an, während ich den Mund zu einem Lächeln verzog. Ich hatte etwa einen halben Sonnenschritt lang Zeit – also eine halbe Ewigkeit.

Noch immer vorgebeugt huschte ich durch den dunklen Raum, die Arme angezogen, die Schritte federnd. Es war das Musikzimmer der Falcrons. Da unsinnigerweise kein Familienmitglied ein Instrument beherrschte, war es zu achtundneunzig Prozent der Zeit leer.

Ich glitt an dem schwarzen Flügel vorbei, ignorierte die bohrenden Blicke der Gesichter auf den Gemälden, die an den weißen Wänden hingen und alle ein anderes Familienmitglied der Falcron-Dynastie zeigten, und blieb vor den zwei Türen am anderen Ende der Dachkammer stehen. Die eine rot, die andere blau.

Probehalber drückte ich die Klinke der roten. Sie war natürlich verschlossen. So wie die vergangenen fünfzehn Male, die ich hier bereits eingestiegen war. Frustriert zog ich die Hand zurück. Ich war in jedem einzelnen Zimmer im Haus gewesen … bis auf dieses. Ich konnte das ein oder andere Schloss knacken, aber keines, das von den Falcrons selbst – den Anführern der Wächter, die für die Aufrechterhaltung der Energiekuppel über Mentano und somit den Schutz des gesamten Landes zuständig waren – mit weißer Magie verstärkt wurde. Da reichten weder Haarnadel noch Stoßgebete.  Was versteckten die Falcrons nur hier? Ihre Juwelen? Ihr geheimes Rezept für den besten Eintopf Mentanos? Es machte mich verrückt, dass ich es nicht wusste!

Das nächste Mal, versprach ich mir, als ein dünner Sonnenstrahl meine Ferse berührte. Ich hatte nicht genug Zeit, um es weiter zu versuchen. Die Falcrons würden bereits am Esstisch sitzen. Das taten sie jeden Abend, sobald das Sonnenlicht die engen Gassen des weißen Rings nicht mehr erreichte. Seit drei Friedensjahren. So lange brach ich bereits in ihr Haus ein. Man könnte fast meinen, sie wären meine Zweitfamilie – obwohl ich nach den Regeln unseres geliebten Landes eigentlich ihr Fußabtreter war. Nur unparfümiert.

Ich presste ein Ohr an die blaue Tür. Als ich wie erwartet keinen Mucks dahinter vernahm, drückte ich sie vorsichtig auf.

Heute war Gelbtag. Der Tag, an dem die meisten höheren Bediensteten aus dem gelben Ring frei hatten, und somit weniger Leute als sonst im Haus waren. Der Nachtwächter würde mittlerweile im unteren Stockwerk mit dem Küchenmädchen flirten. Die Patrouille draußen am Haus vorbeilaufen und sich nicht für sein Inneres interessieren. Den Tageswächter hatten wir bereits gehen sehen.

Zufrieden schloss ich die Tür wieder hinter mir. Der Gast, wegen dem ich hier war, würde hoffentlich ebenfalls bereits am Esstisch Platz genommen haben.

Nur Lord Kaltherz konnte mir jetzt noch gefährlich werden. Der einzige Sohn der Falcrons hatte eigentlich einen anderen Namen. Irgendetwas albern Aristokratisches, das sauer auf meiner Zunge schmeckte. Da er sich aber stets kalt und distanziert wie ein Eiszapfen mit Bindungsproblemen verhielt, hatte der Spitzname seinen richtigen Namen seit Langem verdrängt.

Das Problem bei dem Sohn der Falcrons war, dass er unvorhersehbar und, nicht zu vergessen, das einzige Familienmitglied war, das ich noch nie beim Lügen erwischt hatte. Das verunsicherte mich. Er war wie eine undurchdringliche, glatte Wand aus Marmor, die man weder mit Meißel noch mit Hammer zerkratzen, geschweige denn durchbrechen konnte.

Er war ein paar Friedensjahre älter als ich, wie jeder Falcron ein mächtiger Weißer Magier und arbeitete bei den Wächtern, die sein Vater bis vor Kurzem als Befehlshaber beaufsichtigt hatte. Was genau er dort tat, wusste ich nicht. Wie gesagt: schwarzhaarige Wand aus Stein. Alles, was ich wusste, war, dass er keinem Zeitplan zu folgen schien.

Jyn, seine jüngere Schwester hingegen, die ein paar Friedensjahre weniger miterlebt hatte als ich, war so vorhersehbar wie die Sonnenstrahlen. Sie kam jeden Tag pünktlich gegen Mittag von ihrem Unterricht und schloss sich dann in das Zimmer mit der roten Tür ein, bis zum Essen geläutet wurde und sie sich auf direktem Wege zum Speisesaal begab. Von Mittag- bis Abendessen jedoch öffnete sie für niemanden die Tür. Nicht für das Dienstmädchen, nicht für ihren Bruder und erst recht nicht für ihre Mutter. 

Auch wenn die Falcrons nach außen hin einen anderen Anschein wahrten – sie waren eine sehr kaputte Familie. Mehr denn je, seit Lord Falcron vor ein paar Monaten ums Leben gekommen war. Sie waren fast noch kaputter als meine Familie. Und ich hatte das letzte Mal vor fünf Friedensjahren mit meinem Vater geredet. An dem Tag, als der Rote Magier vor unserer Tür gestanden hatte, um uns zu erzählen, dass meine Mutter bei einem Unfall im roten Ring gestorben war.

Heute jedoch hatte ich Glück. Lord Kaltherz befand sich weder auf der schmalen Treppe, die in den ersten Stock führte, noch im dahinterliegenden kargen Flur, dessen weißer Holzboden und die darin herumstehenden Vitrinen aus Diamant von goldenen, hässlichen Kronleuchtern erhellt wurden.

Ich huschte nach links, hörte Geräusche aus dem zu meiner Rechten liegenden Speisesaal und atmete erleichtert aus, als ich Lord Kaltherz’ dunkle, gelassene Stimme erkannte. Er saß schon beim Essen. Das war gut, denn um die Falcrons am besten belauschen zu können, musste ich in sein Zimmer. Ich eilte den Gang entlang, hielt die Ohren gespitzt und glitt ohne viel Federlesen durch die rechte der beiden am Ende gelegenen Türen.

Das Zimmer des Falcron-Sprösslings war der reinste Augenschmaus für jeden mit einer Vorliebe für blankpolierte Oberflächen, karge Wände und die Farbe Schwarz. Ich war schon so oft hier drin gewesen, ich kannte es in- und auswendig. Das warme Licht der diamantenen Laterne vor dem Haus warf flackernde Schatten in den Raum und ließ ihn gespenstisch aussehen. Ein großes Polsterbett aus dunklem Leder dominierte das Zimmer und wurde in seiner Wuchtigkeit nur von dem Schreibtisch, der gegenüber dem Fenster stand, übertroffen. Ich hatte die Schubladen schon etliche Male durchwühlt, aber bis auf Papier, Kohlestifte, ein paar Zeichnungen von mir unbekannten Häusern, einem Familienportrait und ein paar grünen Stofffetzen nie etwas gefunden. Auch wenn ich klammheimlich immer auf ein Tagebuch gehofft hatte, in dem Lord Kaltherz seinen heimlichen Traum von einer Karriere als Hoftänzer festhielt oder verliebte Gedichte an seinen zu großen Bizeps schrieb.

Ein einziges Gemälde hing an der Wand, direkt über dem Bett. Es zeigte einen Strand, eine Palme und das blaue Meer. Ich wusste, dass es solche Bäume und Orte früher einmal gegeben hatte. Dass das Meer blau gewesen war, bevor das Blut des draußen noch immer tobenden Kriegs es rosa gefärbt hatte. Aber das Bild hier war die erste Zeichnung davon gewesen, die ich je gesehen hatte. Dann waren da noch zwei diamantene Regale, die mit Pergamentrollen, ein paar Kerzen und goldenen Figuren bestückt waren. Lord Kaltherz war ganz schön unvorsichtig. Jede einzelne musste mindestens tausend Menti wert sein. Eine Summe, die den Bewohnern des grauen Rings, dem ärmsten Teil Mentanos, so fremd wie das hinter der Roten Wand liegende Ödland war. Seit das Königshaus die Rote Wand und die Energiekuppel um Mentano hochgezogenen hatte, um das Land vor dem Bündnis zu schützen, wurden sie nämlich nicht mehr mit Geld bezahlt. 

Ich gab mir nicht mehr Zeit, Falcrons Einrichtung weiter zu bewundern. Stattdessen sprang ich auf den Schreibtisch und stellte mich auf die Zehenspitzen, um das Gitter des Lüftungsschachtes zu erreichen, der dieses Zimmer mit dem Speisesaal verband. In den neuen Häusern wurde mittlerweile komplett auf diese Schächte verzichtet. Sie waren zu klein, als dass sie vonnöten gewesen wären. Aber die alten Anwesen im weißen Ring, die so groß waren, dass sie Platz für fensterlose Räume hatten, waren ein einziges Labyrinth aus hölzernen Lüftungsvorrichtungen wie dieser.

Wie gewohnt konnte ich das Gitter leicht nach oben schieben und dann zur Gänze abnehmen. Ich legte es auf die polierte Tischplatte unter meinen Füßen, bevor ich mich durch die schmale Luke zog. Wenn mir der letzte Monat als Erntearbeiterin etwas gebracht hatte, dann waren es Muskeln! Für meine siebzehn Friedensjahre war ich schon immer etwas klein und schmal gewesen – aber das bedeutete auch, dass ich weniger Gewicht stemmen musste.

Ich hievte mich in den Schacht hinauf und landete mit dem Bauch schmerzhaft auf etwas Hartem, Rechteckigem. Leise stöhnte ich auf, zog den störenden Gegenstand unter mir hervor und hielt ihn mir vors Gesicht. 

Das Licht, das von der Seite des Speisesaals aus in den Schacht schien, war dürftig und dennoch … Ich stutzte und öffnete verblüfft den Mund.

Es war ein Buch.

Ein in grünes Leder eingebundenes, handgroßes Buch, das schwer in meiner Hand lag. Nervös drehte ich es zwischen meinen plötzlich feucht gewordenen Fingern. Ein Buch hatte ich das letzte Mal in der Schule gesehen und das war drei Friedensjahre her. Wie war Lord Kaltherz da drangekommen und was zum Henker dachte er sich dabei, es hier zu verstecken?

Außerhalb von Schulen, dem roten Ring und Heilhäusern waren Bücher strengstens verboten. Allein der Besitz eines solchen konnte den Täter zehn Friedensjahre in den Minen kosten. Wenn dann noch herauskam, dass er sich unautorisiertes Wissen angeeignet oder es gar weitergegeben hatte … bedeutete das die Todesstrafe.

Ich schluckte und atmete zitternd ein, während ich ehrfürchtig über den rauen Einband und die darin eingravierten, goldenen Lettern strich.

Das Königshaus – vom ersten Friedensjahr bis heute.

Stirnrunzelnd ließ ich es sinken. Lord Kaltherz riskierte sein Leben, um sich mit ein paar royalen Geschichten zu amüsieren? Das passte so überhaupt nicht zu seiner Persönlichkeit als steinerne Wand.

Zögerlich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. War es nicht meine Pflicht als gute Bürgerin, dem Erben der Falcrons diesen gefährlichen Gegenstand abzunehmen? Er könnte ihn sonst noch in Schwierigkeiten bringen und damit wusste er sicher nicht umzugehen. Ich hingegen steckte andauernd in Schwierigkeiten. Ich bereitete mich quasi schon mein ganzes Leben lang darauf vor, ein Buch zu verstecken. Ich wusste auf jeden Fall, wie ich mich im Ernstfall zu verhalten hatte. Ja, bei mir war es mit Sicherheit besser aufgehoben. Außerdem wollte ich wissen, was so interessant an der Königsfamilie sein sollte, dass Lord Kaltherz dafür seinen Kopf riskierte!

Sicher, Lord Kaltherz würde dann wissen, dass jemand in seinem Zimmer gewesen war und das Buch entwendet hatte … aber was sollte er machen? Den Gegenstand, den er nicht besitzen durfte, als gestohlen melden? Er würde davon ausgehen, dass ein Hausmädchen es beim Putzen gefunden und verschreckt entsorgt hatte.

Tief atmete ich durch und steckte den kompakten Gegenstand mit einem mulmigen Gefühl in meine Tasche, bevor ich weiter durch den Schacht robbte. 

Nach wenigen Fuß vernahm ich eine weibliche Stimme, die durch das Gitter vor mir wehte.

„… verstehe nicht, warum er nicht noch einmal mit ihr ausgehen will, Lord Heller. Sie ist so ein zuckersüßes Geschöpf.“

„Ah, Lady Falcron, man kann nicht bestimmen, an wen man sein Herz verliert“, antwortete eine dröhnende Männerstimme. „Ist es nicht so, Lord Falcron?“

„Wenn Sie das sagen, wird es wohl stimmen“, erwiderte Lord Kaltherz kühl. 

„Dennoch“, beharrte Lady Falcron. „Sie ist wunderschön, aus gutem Haus und die …“

„… dümmste, oberflächlichste und langweiligste Frau, die unser süßer Fratz Caeden jemals getroffen hat?“, schlug eine neue Stimme vor.

„Jyn! So redet man nicht über andere“, tadelte ihre Mutter sie.

„Oh, Caeden hat nichts dagegen, wenn ich ihn ‚süßer Fratz‘ nenne. Ich habe ihn gefragt.“

„Ich spreche von dem, was du über Lady Marla gesagt hast!“

„Aber ich habe es doch extra hinter ihrem Rücken getan. So funktioniert es doch im weißen Ring.“

Ich schmunzelte und wagte mich weiter vor, bis ich mit der Nase fast an das Gitter stieß und endlich sehen konnte, was vor mir geschah.

An der langen, gedeckten goldenen Tafel, etwa zwei Manneslängen unter mir, befanden sich vier Personen. Jyn saß mit dem Rücken zu mir. Ihre schwarzen Haare flossen in Wellen über ihr weißes Seidengewand. Schade. Ihre Lügen würde ich heute also nicht stehlen können. Dafür hatte ich jedoch perfekte Sicht auf Lord Kaltherz oder auch Caeden – was für ein dämlich schicker Name! –, der in schwarzem Hemd den Kopf des Tisches besetzte, sowie auf seine Mutter und den untersetzten, bärtigen Lord Heller.

Er arbeitete als Sicherheits-Kommandant für die Wächter. Soweit ich wusste, war er der einzige Rote Magier, den die Falcrons beschäftigen. Weil er Lüge von Wahrheit unterscheiden und so Intrigen und Verbrechen innerhalb der Wächter leichter aufklären konnte. Das, was die weiße Magie der Falcrons nicht ermöglichte. Er gab heute seinen wöchentlichen Bericht ab – und war außerdem der Grund, warum Gelbtag der beste Tag für einen Ausflug in die Falcron-Räumlichkeiten war.

„Es wird Zeit, zu heiraten, Caeden“, fuhr Lady Falcron fort und nickte dem Dienstboten zu, der ihr Wasser nachschüttete und dann zu seinem Posten an der mit schweren, dunkelblauen Teppichen behangenen Wand zurückkehrte.

„Mysteriös“, erwiderte Lord Kaltherz trocken, den Blick der klaren grauen Augen auf seinen gefüllten Teller gerichtet. „Und ich dachte, dass es Zeit zum Essen sei.“

Lady Falcron schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Du bist zweiundzwanzig und wirst nach dem nächsten Friedensjahr den Posten deines Vaters übernehmen. Dafür brauchst du eine passende Partnerin. Beim Königshaus, in deinem Alter war ich bereits zwei Friedensjahre lang verheiratet!“ Sie seufzte schwer und strich sich die mit grauen Strähnen durchsetzten dunklen Haare hinter die Ohren. „Ach, ich weiß noch, als ich so jung war wie ihr. Meine Schönheit hat selbst dem einflussreichsten Roten Magier die Sprache verschlagen. Ich war hübscher als die Blumen, die Lord Heller mitgebracht hat.“ Sie deutete auf einen Strauß, der in einer Vase vor Caedens Teller stand und presste den Mund zu einer dünnen Linie. „Du wirst bald verstehen, was ich meine, Jyn. Denn auch deine Blüte wird verwelken.“

„Tragisch“, bemerkte Jyn trocken und nahm eine Gabel ihres Essens, bevor sie hinzufügte: „Ich weiß nicht, wie das jedes Mal passiert, aber meine Kartoffeln schmecken so unglaublich verbittert.“

„Du meinst bitter, Schatz“, korrigierte Lady Falcron ihre Tochter.

„Oh, nein“, sagte Jyn fröhlich. „Verbittert war schon das richtige Wort.“

Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich meinte fast zu sehen, wie sich Caedens Lippen nach oben bogen. Doch er versteckte sein Gesicht hinter einem Weinglas. Aber es war ebenso möglich, dass er nur seine Mundwinkel dehnte, die von zu wenigem Gebrauch sicherlich schon langsam einstaubten.

Lady Falcron gab einen missbilligenden Ton von sich und Lord Heller lachte nervös auf, bevor er sich angestrengt wieder seinem Essen zuwandte.

Okay, ich hatte genug Unsinn belauscht. Es wurde Zeit, an die Arbeit zu gehen. Ich legte mich flach auf den Bauch, zog Kohlestift und gläserne Phiole aus meiner Tasche und beschriftete sie mit Datum und Ort, bevor ich ein Stück Pergament zückte. Erst dann wandte ich mich wieder dem Tischgespräch zu. Diesmal jedoch nicht nur mit meinen Ohren.

Ich schloss die Augen und blendete einen Moment lang alles um mich herum aus. Konzentrierte mich nur noch auf meinen eigenen Körper, ließ die Nervosität abebben und verlangsamte meinen Atem. Die Luft, die ich einsog, roch nach Kartoffeln und schmeckte nach Eisen. Sie sammelte sich bitter auf meiner Zunge, stieg in meine Nase und setzte sich dort fest. Ich presste den Geschmack gegen meinen Gaumen, ließ mich einige Herzschläge lang bewusst auf den Geruch nach Essen ein … bevor ich ihn losließ.

Die Kälte, die die Nieten im Holz unter meinem Bauch ausströmten, fraß sich durch den dünnen Stoff meines Kleides und ließ mich erschaudern. Ich spürte sie auf meiner Haut, wie fremde Hände, die mich abtasteten … und ließ sie dann los.

Es waren keine Herzschläge. Es war nur ein einziges Korn, das durch die Sanduhr perlte. Doch als ich die Augen wieder öffnete, sah ich mehr als vorher. Meine anderen Sinne waren betäubt. Ich fühlte nicht mehr, ich schmeckte nicht mehr und ich roch nicht mehr. Stattdessen zeichneten sich die Konturen der Personen vor mir rötlich von ihrer Umgebung ab und die Bewegungen ihrer Lippen waren langsamer als noch zuvor. Deutlicher. Verzögert durch die schwache, rote Magie, die durch meine Adern pulsierte.

Lügen zu stehlen, war nicht wie Atmen. Es war anstrengender. Es war Fingerspitzengefühl. Es war, als würde man seine gesamte Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt richten und ihn allein mit seinem Willen dazu zwingen, sich zu bewegen.

Eine Lüge war fein. Wie roter Staub, der von den Lippen stob, einen Atemzug lang in der Luft hängen blieb und sich dann verflüchtigte. Wenn ich nicht aufpasste, wenn ich nicht genau hinsah, dann verpasste ich sie. Und selbst wenn ich sie entdeckte, konnte ich sie immer noch falsch lesen. Denn Lüge war nicht gleich Lüge. Lügen waren facettenreich. Die leichteste Farbnuance entschied über ihre Wichtigkeit.

Lügen, die ausgesprochen wurden, um die Gefühle anderer nicht zu verletzen, blitzten magentafarben auf. Lügen, die Menschen nutzten, um sich selbst in ein besseres Licht zu rücken, glänzten purpurfarben. Ausreden schimmerten malvefarben. All diese Lügen waren jedoch so gut wie wertlos. Auf dem Schwarzmarkt brachten sie kaum zwei Menti ein.

Ich suchte die blutroten Lügen. Die Lügen, die ein Geheimnis versteckten. Die Lügen, die etwas Großes verbargen. Die Lügen, die sich von Angst nährten und deren Entdeckung schreckliche Konsequenzen nach sich ziehen würde.

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