Geheimnis der Götter – Feuer der Rebellion
Prolog
Am Anfang steht die Entscheidung, am Ende bleibt das Chaos. Die Mitte untersteht Regeln, denn weder im Krieg noch in der Liebe ist alles erlaubt.
Eine Gänsehaut zog sich über ihren Nacken, während die kalte Hand des Gottes über ihre Wange strich und sich zwei Finger auf ihre Schläfe legten.
Sie fürchtete sich nicht. Es war eher … Unsicherheit, die sie verspürte. Sie wusste nicht, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. „Wird es wehtun?“, fragte sie, als der Gott ihren Kopf in den Nacken drückte.
„Fürchtest du dich vor Schmerz?“
„Nein“, sagte sie ruhig. Und es war die Wahrheit. Körperlicher Schmerz hatte ihr nie Angst eingejagt. „Ich würde nur gerne auf alles vorbereitet sein.“
Das leise Lachen des Gottes war angenehm. Es hörte sich wie das eines Menschen an, fand sie. „Du wirst es kaum spüren. Schließe die Augen.“
Sie folgte seiner Anweisung, doch das, was er sagte, stimmte nicht.
Sie spürte es – gleichwohl es nicht wehtat. Es war, als würde eine kühle Hand sie berühren, nur dass sie die Berührung nicht auf ihrer Haut spürte, sondern in ihrem Geist.
„Lass mich ein.“
Und das tat sie. Bild um Bild floss in ihren Geist, vermischte sich mit ihren eigenen Erinnerungen, verdrängte sie, umspielte sie, schluckte sie hinunter und spuckte sie wieder aus. Sie konnte es alles vor ihrem inneren Auge sehen.
Und dann war da noch etwas anderes.
Eine Präsenz. Nein, ein Licht.
Es war nicht ihr Licht. Es gehörte nicht zu ihr, es dürfte eigentlich gar nicht hier sein, aber dennoch …
Sie griff danach, zog es zu sich herüber, umschloss es mit ihrem Geist – und ließ es nicht mehr los.
Kapitel 1
Es sei ein Zeitraum von tausend Jahren vorgegeben.
Sie blickte auf sich hinab. Ihr langes schwarzes Haar lag um ihr Gesicht gefächert auf dem grauen Stein, und sanft strich sie sich eine Strähne aus der Stirn, bevor sie sich hinabbeugte und ihre Stirn küsste.
Ihr Herz tat weh, lag schwer in ihrer Brust, und schien sie auf den Boden der Lichtung hinunterzuziehen. Doch für Zweifel hatte sie jetzt keine Zeit. Sie hatte einen Auftrag. Sie bückte sich, nahm Erde in ihre Hände und strich sie über die rote Stoffhose, die eng an den Beinen ihrer bewegungslosen Gestalt anlag. Es musste aussehen, als habe sie gekämpft.
Als nächstes streckte sie die Hand aus, eine große, schwielige Hand, die nicht ihre war, nicht ihre sein konnte … und dennoch war sie es, die die Bewegung ausführte. Es war absurd. Sie betrachtete ihr bewusstloses Ich! Sah sich auf dem steinernen Altar liegen. Ihre Finger strichen über ihre eigenen, nahmen den Dolch von ihrem Gürtel und ersetzten ihn mit einem hölzernen, billigen Modell.
Sie lachte leise. Es war ein tiefes Lachen und nicht ihr eigenes. Salia wird wütend sein, wenn sie ohne ihren Dolch aufwacht. Sie …
Nym riss ihre Hand nach oben und starrte schwer atmend in das Gesicht des ihr gegenübersitzenden Mannes.
Es war seine Erinnerung gewesen. Nicht ihre. Das wusste sie mit der gleichen Gewissheit, mit der ihr jetzt klar war, dass Jeki Tujan ihr Verlobter war. Dass er sie liebte. Dass er ihr nie etwas angetan hätte … dass sie wirklich, wirklich verwirrt war.
Alles war falsch. Alles, was sie in den letzten Wochen über sich zu wissen geglaubt hatte, war falsch.
Diese Erkenntnis schien auf ihren Schultern zu lasten, schwer gegen ihre Schläfen zu pochen und ihr Herz gegen ihren Kehlkopf zu drücken.
Wie konnte es sein, dass sie das Gefühl hatte, sich selbst nicht zu kennen?
„Salia, alles in Ordnung?“
Jeki runzelte die Stirn, und besorgt wanderte sein Blick über ihre Züge, bevor er zu seinem Unterarm zurückglitt, an dem sie ihn berührt hatte.
Nym stieß einen dumpfen Ton aus, den sie selbst nicht ganz einem Lachen oder einem leicht hysterischen Schluchzer zuordnen konnte.
Ob alles in Ordnung war?
Nein, bei den verdammten Göttern! Nichts war in Ordnung.
„Du wolltest mich nie töten“, stellte sie blinzelnd fest und zog ihre Hände so weit wie möglich zurück in ihren Schoß. „Du bist mein Verlobter. Du liebst mich. Ich … habe die Göttliche Garde nie verraten. Ich wurde nicht verstoßen.“
Ihr Kopf begann sich zu drehen. Und mit jedem Satz, den sie wiederholt laut aussprach, formten ihre Worte eine neue Realität. Da waren Emotionen, die sie überfluteten, Erinnerungen, die sie nicht zuordnen konnte, von denen sie nicht wusste, ob es ihre eigenen waren, Gerüche, Berührungen, Stimmen … ihr wurde schwindelig.
„Salia …“
Er sollte aufhören, sie so zu nennen! Sie war nicht Salia, wusste nicht, wie sie Salia sein konnte … sie war Nym! Sie hatte doch gerade erst angefangen, sich mit dem Gedanken zu arrangieren, dass sie Nym war. Sie wollte diese neugewonnen Sicherheit nicht wieder verlieren!
Unruhig drängte sie sich mit dem Rücken gegen den Bettkopf. Sie starrte auf ihre Hände, die sich zu Fäusten ballten, wieder flach auf ihre Knie legten, zu Fäusten ballten …
Sie hasste die Götter … oder?
Sie hasste die Göttliche Garde … oder?
Levis Gesicht blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Liri und Vea. Filia, die vor der Garde hatte fliehen müssen. Ro. Und dann … dann war da Jeki.
Jeki, der sie anstarrte, als sei er jahrelang durch die Wüste gelaufen und sie ein Glas Wasser. Jeki Tujan, der geduldig darauf wartete, dass sie wieder sprach. Dessen Liebe, die sie in seinen eigenen Erinnerungen gesehen und gespürt hatte, auf ihrer Haut zu brennen schien. Die so greifbar war, dass ihre Brust schmerzte.
Aber es war seine Liebe, die sie spürte. Nicht ihre eigene. Sie wusste, dass er ihr Verlobter war, konnte sich daran erinnern, aber dann … dann hörte die Erinnerung auch schon auf. Oder war sie es selbst, die ihre Erinnerung an dem Punkt abbrechen ließ?
Denn wenn alles zurückkam … was würde dann mit ihr passieren?
„Ich verstehe das nicht“, murmelte sie und schloss die Augen. „Ich …“
Doch sie belog sich selbst. Sie verstand. Brauchte weder Jekis Erinnerungen noch ihre eigenen, um zu verstehen.
„Du bist kurz davor, durchzudrehen, oder?“
Nym lachte heiser und blickte auf. „Ich habe mich noch nicht ganz entschieden.“
Jeki hob einen Mundwinkel, und dieses halbe Lächeln war ihr so vertraut, dass es sich anfühlte, als würde eine kalte Faust in ihre Magengegend gestoßen. Sie wandte den Blick hab und ließ ihn durch den Raum schweifen, aus dem Fenster, wo sie den Götterdom erkennen konnte. Wieder blitzten Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Wieder folgte eine Emotion der nächsten – und ließ sie verwirrt zurück. Sie verlor den Überblick, wusste nicht mehr, welches Gefühl, welche Erinnerung zu wem gehörte und welchem Bild sie trauen konnte.
Es war, als würde ihr Geist nach allem greifen, was sie sah, und es mit Assoziationen in ihrem Kopf verknüpfen. Da waren Worte, Unterhaltungsfetzen, Gelächter, Hände, Gesichter.
Sie presste die Fäuste auf ihre Augenlider und wiegte sich vor und zurück. Die Bilder verschwammen und ein pochender Schmerz dehnte sich über ihre Kopfhaut aus.
Was passierte mit ihr?
Wieso fühlte es sich so an, als wäre sie nicht mehr in ihrem eigenen Kopf?
„Salia? Was ist los?“ Eine Hand berührte sie sanft an der Schulter, und sie zuckte zusammen.
Sie lachte. „Hattest du wirklich Angst, dass ich Nein sage, Jeki?“
„Na ja, nein, aber …“
Sie verdrehte die Augen. „Natürlich heirate ich dich, du Pfosten! Solange deine Mutter nicht im selben Haus wohnt … dafür sind die Wände leider nicht dick genug.“
Das Bild verschwand, wurde von einem neuen überdeckt.
Sie drehte eine Münze in ihren Händen und lächelte. Alles entwickelte sich nach ihren Wünschen. Sie konnte es kaum erwarten, den Gesichtsausdruck der anderen zu sehen …
„Du siehst sehr selbstzufrieden aus, mein Lieber.“
Sie blickte auf. Valeras Augen blitzten spöttisch, doch das kümmerte sie nicht. „Oh, das bin ich. Das bin ich.“ Ihre Finger glitten über die rauen Einbände der Bücher, die in einem Regal zu ihrer Rechten standen. „Sie ist der Schlüssel.“
„Du urteilst zu schnell.“
Ihr Lächeln wurde breiter. „Ich tue nichts dergleichen.“
Sie riss ihre Augen auf und ihr Kopf prallte hart gegen das Holzgestell hinter ihr.
„Salia, was ist los?“ Jekis Stimme war unruhig und sein Blick mehr als nur besorgt.
„Ich …“
Doch sie wusste es nicht. Sie presste beide Hände über ihre Ohren und versuchte ihre Atmung zu regulieren. Es war ihr Kopf. Sie hatte die Macht über ihn. Niemand anderes!
Sie ließ ihre Hände sinken, schloss sie zu Fäusten und zwang sich zur Ruhe. Die Bilder ebbten ab, und nichts als ein fahler bitterer Geschmack in ihrem Mund blieb zurück, doch ihr Herz pochte weiterhin hastig in ihrer Brust.
„Erzähl mir etwas“, murmelte sie und schloss die Augen. „Etwas über mich. Etwas, das … zu mir gehört.“
Sie brauchte etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Von dem sie sicher sein konnte, dass es die Wahrheit war. Dass es ihre Wahrheit war. Jeki würde sie nicht anlügen.
Eine Weile herrschte Stille, und sie glaubte schon, dass Jeki nicht antworten würde, als er murmelte: „Du kannst nicht schwimmen. Du hasst es, dass du nicht schwimmen kannst, aber hast zu große Angst, es zu lernen. Natürlich würdest du nie zugeben, dass du Angst hast, weswegen du mir verboten hast, es irgendwem zu sagen.“
Sie nickte und ihr Puls verlangsamte sich. Ja, das wusste sie. Daran erinnerte sie sich.
„Du bist die beste Kämpferin der Göttlichen Garde – und das ist dir vollauf bewusst. Dennoch tust du bescheiden und erklärst jedem, dass es eine Menge anderer, begabter Soldaten gäbe.“
Ihre Mundwinkel zuckten und eine beruhigende Wärme legte sich über ihre Haut. „Ich bin insgesamt der beste Kämpfer“, murmelte sie. „Mit Ausnahme vielleicht von dir.“
Sie hörte Jeki leise lachen und der raue Ton kroch unter ihre Haut, flüsterte ihr liebliche Dinge zu.
„Du bist selbstsicher, in allem, was nicht deine Familie betrifft. Du bist stolz, loyal, du magst kein Gemüse, das unter der Erde wächst – du behauptest, du würdest den Dreck schmecken. Du bist die mutigste Frau, die ich kenne … und alles, was du tust, tust du mit deiner gesamten Energie. Ach ja, und du erzählst gerne Lügen über die Göttliche Garde, um zu sehen, welche Gerüchte sich durchsetzen.“
Aus dem letzten Satz hörte sie sein Lächeln heraus und auch ihre Mundwinkel zogen sich erneut nach oben.
Ja, auch das wusste sie.
Die Bilder in ihrem Kopf waren nun vollkommen zum Erliegen gekommen und der Schmerz nur noch ein leises Stechen in ihrem Hinterkopf.
Sie öffnete die Augen und blickte in Jekis. „Danke“, flüsterte sie. „Ich …“
„Jeki! Mach die Tür auf!“
Nym zuckte zusammen.
„Jeki! Ich weiß, dass du mich hören kannst.“
Ein konsequentes Hämmern auf Holz und eine Stimme drangen durch das offene Fenster zu ihnen herauf.
„Jeki!“
Fluchend schüttelte Jeki den Kopf. „Ignorier ihn.“
„Jeki, es ist wichtig!“, brüllte die Stimme erneut.
Arcal. Das ist Arcals Stimme. Arcal ist Jekis bester Freund, schoss es Nym durch den Kopf.
„Es geht um Janon!“
Jekis Gesicht verhärtete sich und er stand vom Bett auf, um zum Fenster hinüberzuschlendern.
„Arcal“, sagte er ruhig, den Kopf durch den Rahmen gesteckt. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne reflektierten sich auf seiner goldenen Rüstung und warfen gelbe Muster auf die weiße Zimmerdecke. „Wenn du nicht einen grausamen Tod sterben willst, dann …“
„Janon wurde festgenommen, Jeki.“ Arcals Stimme war nun leiser, doch Nym hatte keine Probleme damit, ihn zu verstehen.
„Janon wird fast jede Woche festgenommen, Arcal. Ich bin beschäftigt und ich …“
Doch erneut unterbrach Arcal ihn. „Jeki. Diesmal ist es anders. Er steckt in echten Schwierigkeiten.“
Nym sah, wie sich Jekis Rücken versteifte, dann fluchte er, bevor er ruckartig seinen Kopf zurück ins Zimmer zog.
Sein Blick traf ihren und er sah auf einmal so erschöpft aus, dass Nym den Drang verspürte, seine gerunzelte Stirn mit ihrer Hand glattzustreichen. Zuneigung durchflutete sie … und sie hatte keine Ahnung, was sie mit diesen Gefühlen anfangen sollte.
„Ist in Ordnung“, murmelte sie. „Dein Bruder hat Vorrang.“
Überrascht flogen Jekis Augenbrauen in die Höhe. „Du weißt, dass er mein Bruder ist?“
Sie nickte und nachdenklich drehte sie ihren Kopf, um noch einmal einen Blick auf den gelben Teller zu werfen, der über dem Bett hing. „Ja. Ich weiß, dass er dein Bruder ist. Also … geh. Ich werde, denke ich, nicht weglaufen.“
Sie hatte die letzten Wochen über Informationen gewollt und die würde sie nur hier bekommen. Sie würde nicht gehen, ehe sie wusste, wer sie war – ehe sie sich entschieden hatte, wer sie sein wollte.
Jeki sah sie lange an, als versuche er, ihre Gedanken zu lesen. Doch er schien keinen Erfolg damit zu haben.
„Ich möchte nicht gehen“, stellte er schließlich leise fest. „Ich … habe dich doch gerade erst wiederbekommen.“
„Ich bleibe hier, Jeki.“ Für Jetzt.
Er nickte ein letztes Mal und verschwand im nächsten Moment aus der Tür.
Nyms Herz zog sich zusammen und sie lauschte dem Holz, das mit einem dumpfen Schlag zurück in den Rahmen fiel.
Er liebte sie.
Wie hatte sie das vergessen können? Wie hatte sie den besten Teil ihres alten Lebens vergessen können? Wie hatte sie vergessen können, dass sie geliebt worden war?
Sie stand vom Bett auf und schlenderte zum Fenster. Sie sah zwei Männer in goldener Rüstung in Richtung des Turmes gehen, und als sie ihren Kopf nach unten neigte, konnte sie zwei Wachen erkennen, die mit den Händen auf ihren Schwertknäufen vor der Eingangstür standen.
Die Garde vertraute ihr also nicht.
Gut. Denn das beruhte auf Gegenseitigkeit.
Sie tastete mit ihren Händen ihre Seiten und ihren Gürtel ab. Ihr war wieder einmal der Dolch abgenommen worden. Dennoch war sie nicht beunruhigt. Die Wachen könnte sie mit zwei Handgriffen töten.
Wieder schweiften ihre Gedanken zu all dem, was Jeki ihr erzählt hatte, und zu dem, was sie sich selbst zusammengereimt hatte.
„Es … ist kompliziert. Ich sollte dir das nicht erklären. Api wird das tun wollen.“
Sie lief zurück zum Bett und ließ sich erneut auf die weiche Matratze nieder. Sie war unglaublich müde, und wenn sie ehrlich war, dann hatte sie Angst.
Sie konnte nicht ganz benennen, wovor sie Angst hatte. Vielleicht vor dem, was sie zu wissen glaubte, und vor der Person, zu der es sie machte.
Sie schluckte und konzentrierte sich eine Weile nur auf ihren ruhigen Atem. Nym war keine dieser Frauen, die andauernd Trost brauchten. Sie benötigte die Arme eines Mannes nicht, um sich sicher und verstanden zu fühlen. Aber jetzt gerade? In dem Moment, als sie ihre Arme um die Beine legte, die Wange auf ihre Knie presste und versuchte, ihren Kopf zu leeren … da hätte sie nichts gegen eine Umarmung gehabt.
Eine Umarmung von Levi.
Sie lachte bitter auf und rieb sich mit der flachen Hand übers Gesicht.
Sie steckte in großen, großen Schwierigkeiten.
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