Asche (Bd. 4) – Leseprobe

Prolog

Wir sind alle verblendet. Wir sehen nur das Licht und vergessen die Schatten. Ich bin die Regel, nicht die Ausnahme. Hätte ich nicht gesehen, was ich gesehen habe, hätte ich nicht gehört, was ich gehört habe – dann würde ich immer noch tun, was ich getan habe. Es wird erzählt, ich sei verrückt geworden. Doch das ist nicht wahr. Ich bin lediglich aufgewacht und wurde gezwungen, wieder einzuschlafen. Und alles, was mir blieb, war die Hoffnung. Die Hoffnung, dass meine Töchter es besser machen würden als ich. Aber in einer Welt, die sich der Taubheit verschrieben hat, wie soll da jemand Gehör finden?

Sie hatte Angst. Er konnte es in ihrem Blick sehen, der hektisch durch den Raum flog. An der grünbraunen Iris, die fast von der Pupille verschluckt wurde. An ihren Händen, die ihren goldenen Helm umklammerten.

Angst war etwas Gutes. Angst war das, was sie alle am Leben hielt. Wenn das Volk aufhörte, Angst zu haben  … bekämen sie ein Problem.

Er lächelte. Es war eine Ewigkeit her, dass er selbst Furcht verspürt hatte. Zweihundert, vielleicht zweihundertfünfzig Jahre.

„Karu Kerwin. Es freut mich, dass du meinem Ruf so zeitnah gefolgt bist.“

„Natürlich, Api.“ Sie senkte den Kopf, entblößte ihren Nacken. Er konnte sehen, wie schwer ihr diese Geste fiel, wie sie die Schultern versteifte. Konnte hören, wie ihre Atmung flacher wurde.

„Weißt du, warum ich dich habe rufen lassen?“, fragte er leise. Er wandte den Blick ab und strich mit seinen Fingerspitzen die Buchrücken entlang, so wie er es immer tat, wenn er ungeduldig war. Eine schlechte Angewohnheit, die er seit Jahrhunderten nicht abzulegen vermochte. Seine Hand hielt inne, als er den Glaswürfel erreichte, der als Buchstütze diente. Der Würfel, in dem eine einzelne Münze stand. Er ließ seinen Arm fallen und betrachtete wieder die Soldatin vor ihm.

„Ich habe dir eine Frage gestellt.“

„Nein, Api. Ich  … mir ist nicht klar, warum Ihr nach mir habt schicken lassen.“

„Tatsächlich?“ Sie log. Alle Menschen logen. Da waren sie den Göttern gar nicht so unähnlich.

„Ja.“ Karu Kerwin schluckte und nickte hastig.

Er seufzte leise und strich sich die goldene Robe glatt. „Karu, es gebietet sich nicht, einen Gott zu belügen.“

„Ich würde nie  –“

„Du hast etwas gesehen, Karu. Etwas gehört. Etwas, das nicht für deine Augen und Ohren bestimmt war. Und du hast keine Ahnung, wie sehr mir das leidtut.“

Die Frau wich vor ihm zurück, eine Hand an dem Knauf ihres Schwertes. „Ich … es tut mir leid, Api. Es war ein Versehen. Ich wollte Euch nicht … ich werde es niemandem erzählen.“

„Ah, Karu. Wie könnte ich mir dessen sicher sein?“

„Ich gebe Euch mein Wort. Ich … schwöre auf das Leben meiner Töchter.“

„Deiner Töchter?“ Er hob seine Augenbrauen. „So leichtfertig riskierst du ihr Leben?“

Sein Gegenüber schüttelte hastig den Kopf. „Ich riskiere es nicht, denn ich halte meine Versprechen.“

Wieder seufzte er schwer. Versprechen waren nichts wert. Versprechen wurden gebrochen. „Ich fürchte, darauf kann ich mich nicht verlassen, Karu. Denn vor einer Woche hättest du sicherlich auch noch behauptet, dass du nie auf die Idee kämest, die Götter zu belauschen.“

Die Frau vor ihm befeuchtete ihre Lippen mit der Zunge, ließ ihre Hand vom Knauf ihres Schwertes gleiten und atmete zitternd aus. Sie gab auf. Und er war erleichtert darüber.

„Werdet Ihr … werdet Ihr mich töten?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Töten? Nein. Dafür bist du viel zu wertvoll, Karu. Eine so starke Ikano des Feuers findet man nur selten. Nein, nein. Du wirst leben. Aber ich fürchte, ich muss dich etwas vergessen lassen.“

„Vergessen?“

„Ja.“

„Wenn es wegen Tergon ist …“

„Ja, unter anderem auch wegen Tergon“, sagte er leise und trat einen Schritt auf sie zu. „Die Menschen dürfen nicht wissen, was mit ihm passiert ist. Sie könnten den falschen Eindruck gewinnen, solltest du ihnen jemals von den Dingen erzählen, die du belauscht hast, findest du nicht?“

„Natürlich. Natürlich! Wie gesagt, ich werde es nicht verraten. Ich –“

„Ich vertraue keinem Menschen, Karu, tut mir leid“, murmelte er, überwand die restliche Distanz zwischen ihnen und presste seine kalten Finger auf ihre Schläfen. Sofort befand er sich in dem Raum ihres Geistes. Sie wehrte sich nicht einmal. Hatte nicht einmal eine Tür geschaffen, um ihn aufzuhalten. Er blickte in die Fenster ihrer Erinnerungen und wischte fahrig Bild um Bild fort, bis er zu dem Ereignis kam, das er gesucht hatte. Er starrte seine eigene Reflektion an. Die von Valera. Von Thaka. Dann griff er in das Fenster und zerschnitt sie mit seinen Fingern. Verwischte sie, verschleierte sie, zerstörte sie. Er arbeitete schnell, denn mit jedem verstreichenden Moment wurde es heißer. Der Ikano war bewusst geworden, was er tat. Sie begann sich zu wehren. Seine Griffe wurden immer unpräziser, aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen.

Die Hitze wurde unerträglich. Umschloss ihn, drang durch den Stoff seiner Robe. Er musste gehen. Er hatte genug Spuren verwischt. Genug Erinnerungen entfernt. Es würde reichen. Mit Sicherheit.

 

Kapitel 1

Karus Schritte federten auf dem weichen Teppich wider, der auf den Treppen ausgelegt war. Sie war müde. Sie wollte endlich nach Hause, ihre beiden Töchter in die Arme nehmen, ihrem Mann einen Kuss geben und diesen Tag vergessen. Doch sie musste den Göttern Bericht erstatten, so verlangte es das Protokoll.

Sie erreichte den Treppenabsatz, glitt langsam den Flur entlang – und stockte.

 Nym keuchte auf und schnappte nach der kalten Luft, die in Form weißen Nebels vor ihrem Gesicht hing. Ihr Kopf tat weh. Noch nie hatte ihr eine von Apis Erinnerungen geschmerzt, aber diese  … diese ließ sie ihre kalten Handflächen an die heißen Wangen pressen.

Es war Api gewesen. Der Gott der Vergeltung hatte dafür gesorgt, dass ihre Mutter verrückt geworden war.

Es war nicht ihre Schuld. Es war nicht Veas Schuld. Sie hatten nichts mit dem Selbstmord ihrer Mutter zu tun. Api hatte ihren Geist verändert – und dabei versagt. Er war nicht präzise genug vorgegangen. Er hatte sie verrückt werden lassen!

Aber warum? Was hatte sie gesehen? Was hatte sie herausgefunden? Was war mit Tergon passiert? Was durften die Menschen nicht erfahren? Was verbargen die verdammten Götter da nur vor ihrem Volk?!

„Salia? Was ist los? Alles okay?“

Ihr Kopf fuhr herum und sie blickte in warme, dunkle Augen. Jeki. Er hatte wohl Wache gehalten.

Sie zog ihre Beine an, ließ die Hand zu ihrer Stirn gleiten und atmete zitternd aus.

„Salia?“

„Ich habe nur  … nur schlecht geträumt“, murmelte sie, schüttelte den Kopf und ließ den Blick über die Ebene gleiten, auf der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie hatten ihre Matten kreisförmig um ein bereits erloschenes Feuer gelegt. Jeki saß zu ihrer Rechten, Levi lag zu ihrer Linken. Leena und Filia schliefen ihr gegenüber.

„Schlecht geträumt?“, wiederholte Jeki, der noch immer neben ihr hockte, seinen intensiven Blick auf ihr Gesicht gerichtet.

Sie nickte. „Ja, keine große Sache.“

Sie hatte niemandem erzählt, dass sie Zugang zu Apis Erinnerungen hatte – und das würde sie auch nicht nachholen. Ihre Mitstreiter hatten genug Sorgen, als dass sie auch noch befürchten mussten, dass Nym durchdrehte. Die Angst davor setzte ihr allein schon genug zu!

Wusste der Gott von ihrer Verbindung? Konnte er sie ebenso nutzen, vielleicht sogar ohne dass sie es merkte? Überwachte er jeden ihrer Schritte?

„Hast du etwa auch vergessen, gut zu lügen?“, fragte Jeki interessiert und ließ sich neben ihr auf die Bambusmatte sinken. Auf die Stelle, wo soeben noch ihr Kopf gelegen hatte.

„Was?“ Nym wandte ihm den Kopf zu und erwischte ihn bei einem Lächeln.

„Du lügst“, stellte er fest und legte einen Arm um sie. „… und du bist eiskalt!“ Die Worte kamen so schockiert über seine Lippen, dass Nym fürchtete, er könne damit die anderen aufwecken. Doch niemand regte sich.

„Salia! Du frierst. Was zum Teufel hat dich geweckt?“

Augenblicklich erhitzte Nym ihre Haut. „Nur eine Erinnerung, die mit meiner Mutter zu tun hat“, erklärte sie.

„Okay.“ Jeki drängte sie nicht dazu, mehr zu sagen. Vielleicht, weil er wusste, dass sie sich nicht drängen lassen würde.

Sie saßen eine Weile schweigend da, Nym eng an seine Seite gepresst, in Sicherheit. Sie legte ihren Kopf in den Nacken und sah durch die kargen Baumkronen des asavezischen Laubwaldes auf die Spitzen der Kreisberge, deren schwarze Umrisse sich vom klaren Sternenhimmel abhoben. Wie große Männer, die bedrohlich auf sie hinabsahen. Darauf warteten, dass sie einen Fehler beging, damit sie angreifen konnten. Morgen würden sie sich an den Aufstieg machen. Hier, am Fuße der Berge, war es bereits kühl, und Nym wollte gar nicht wissen, wie kalt es auf dem Gebirge selbst sein würde.

Die Kreisberge. Niemand geht in die Kreisberge.

Sie senkte den Blick. Vielleicht war sie dem Wahnsinn ja schon verfallen.

„Hast du Angst?“, fragte Jeki leise, der ihrem Blick gefolgt war.

„Vor den Kreisbergen?“

Er nickte.

„Nein. Nicht vor den Bergen. Ich habe Angst davor, dass wir nichts finden werden. Dass ich keine Antworten auf meine Fragen bekomme.“

„Angst davor, dass das Kreisvolk nicht existiert?“

Sie lächelte grimmig. „Oh, es existiert. Ich weiß, dass es existiert. Die Götter würden sich nicht die Mühe machen, die Existenz des Volkes derart in Frage zu stellen, wenn es nicht tatsächlich real wäre. Aber ich fürchte, dass wir sie nicht finden werden – wenn sie nicht gefunden werden wollen.“

„Wir schaffen es schon“, sagte Jeki und er klang zuversichtlicher als Nym sich fühlte. „Ich hasse es, das zu sagen, aber zusammen mit dem Ikano der Luft sind wir eine ziemlich starke Streitmacht.“

Ja, vielleicht. Aber ein Kampf war in diesem Fall nicht die Lösung.

„Letztendlich ist es egal, ob wir gut oder schlecht vorbereitet sind“, meinte Nym schulterzuckend. „Die Unwahrscheinlichkeit, das Volk zu finden, ändert nichts an der Tatsache, dass wir es versuchen müssen.“

Sie konnte Jeki nicken spüren, doch er schwieg.

Sie kuschelte sich enger in seine Umarmung, einfach weil sie sie nötig hatte, und ihr Blick flackerte kurz zu Levi, der auf dem Rücken schlief, einen Arm unter den Kopf geklemmt. Er sah friedlich und zufrieden aus. Ein Umstand, der sich ändern würde, sobald er die Augen aufschlug. Nyms Mundwinkel zuckten. Irgendwie, wenn man den bevorstehenden Krieg mal außen vor ließ und ihre derzeitige Situation neutral betrachtete, war die ganze Sache hier ganz schön aberwitzig.

Sie war mit ihrem Verlobten, den sie vergessen hatte, ihrem Liebhaber, der mehrfach versucht hatte, sie umzubringen, ihrer ehemaligen besten Freundin, die sie nun hasste, da Nym ihre zwei Brüder umgebracht hatte, und der größten Zicke, die in den letzten Tagen die Netteste von allen gewesen war, unterwegs in die Kreisberge, die einen laut Legende töteten, sobald man den ersten Fuß auf sie setzte.

Manche Dinge konnte man einfach nicht erfinden.

Sie seufzte leise und zog sich den Leinenstoff, der als Decke diente, höher um die Schultern. „Jeki? Hast du dich schon einmal gefragt, wo Tergon steckt?“

„Was?“

„Tergon. Der vierte Gott. Hast du ihn schon einmal gesehen?“

„Nein, natürlich nicht. Niemand hat das. Er mag die Öffentlichkeit nicht.“

Sie nickte. „Ja … oder er ist verschwunden. Vielleicht sogar tot. Möglicherweise ist es das, was die Götter versuchen zu vertuschen. Dass Tergon überhaupt nicht mehr existiert.“

„Wie kommst du jetzt darauf?“

„Keine Ahnung, es ist nur so ein Gefühl. Findest du es nicht merkwürdig? Dass niemand ihn gesehen haben will?“

„Doch schon, aber …“ Jeki hielt inne. „Moment. Das stimmt nicht. Es gibt jemanden, der ihn getroffen hat.“

Nym wandte ihm abrupt den Kopf zu. „Was?“

Er nickte. „Natürlich. Deine Schwester.“

„Vea?“

„Hast du noch eine andere?“

„Aber … wann?“

„Erinnerst du dich nicht? Du hast es mir damals selbst erzählt. Nachdem eure Mutter gestorben ist, wurde Vea in den Palast geladen, in dem sie allenGöttern vorgeführt wurde. Allen vieren. Das waren deine Worte. Und ich wüsste nicht, warum Vea dich damals hätte anlügen sollen.“

Nym zog die Augenbrauen zusammen und dachte über Jekis Worte nach. Sie waren wahr. Das wusste sie, auch wenn sie sich selbst nicht mehr an die Situation erinnern konnte. „Du hast recht. Vea hat sie alle vier gesehen.“

Und dennoch: Irgendetwas stimmte nicht mit Tergon. Ihre Mutter hatte etwas herausgefunden, und als Jaan in der Zweiten Mauer den Gott der Vergebung erwähnt hatte, hatte Thaka äußerst erbost reagiert. Das musste doch etwas bedeuten, oder nicht?

Nur was?

Und falls er noch lebte – vielleicht hielten die anderen Götter ihn im Palast gefangen? Gegen seinen Willen? Weil er die Wahrheit hatte erzählen wollen? Die Wahrheit über … was auch immer.

Aber nein. Alle Götter waren gleichstark. Sie beherrschten die vier Elemente. Sie waren unsterblich. Man könnte Tergon sicher nicht einfach überwältigen … obwohl: Wenn drei gegen einen kämpften?

Frustriert ließ Nym ihren Kopf nach vorne auf ihre Knie fallen. Sie wusste es nicht! Da waren zu viele Komponenten, die sie nicht erklären konnte. Zu viele Puzzleteile, die nicht passten. Zu viele verdammte Informationen, die sie nicht hatte!

Sie musste etwas übersehen. Irgendetwas großes. Es musste doch eine Erklärung für alles geben.

„Du solltest noch etwas schlafen, Salia“, flüsterte Jeki und drückte sanft ihre Schulter. „Wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns und wir brauchen deinen Kopf wach und geordnet.“

Sie hätte beinahe laut zu lachen angefangen. Wann bitte war ihr Kopf das letzte Mal geordnet gewesen? Das war ein Zustand, den sie sich nicht einmal mehr vorstellen konnte.

Dennoch nickte sie. Sie war erschöpft. Die nächtlichen Stunden, die sie in dem Raum ihrer Gedanken verbrachte, waren nicht erholsam. All diese Zeit, in der sie ihre eigenen Erinnerungen studierte, die Gedanken Apis aufgedrängt bekam und den Hebel anstarrte, der auf einmal an der Wand erschienen war, nahmen ihr den ruhigen Schlaf, den sie brauchte.

Sie schloss die Augen, genoss Jekis vertraute Wärme und fragte sich, ob sie vielleicht glücklicher wäre, wenn sie ihre Erinnerung nie verloren hätte und immer noch den Göttern folgen würde. Wahrscheinlich ja. Es war so viel einfacher, die Gegebenheiten blind zu akzeptieren.

„Ich bin froh, dass du nicht mehr bei den Göttern bist, Jeki“, murmelte sie und ließ ihren Kopf auf seine Schulter sinken. „Ich bin froh, dich hier zu haben.“

Jeki antwortet nicht. Sie konnte ihn lediglich nicken spüren. Er war ihretwegen hier. Nicht aus freien Stücken. Und wahrscheinlich vertraute er den Göttern noch immer, egal, wie viel Leid sie ihm zugefügt hatten. Aber Nym hatte die Ahnung, dass sich dies ändern würde – sollten sie das Kreisvolk jemals finden.

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